Timeline

Würde ich meine Memoiren schreiben, müßte ich mir wohl eine Dauerkarte für den Zug beschaffen.
Dieses einzigartige Transportmittel, in dem meist Störungen des Betriebsablaufs, der persönlichen Komfortzone und sensorische Irritationen garantiert sind, regt mich wie kein anderes zum Zurückblicken und nach vorne schauen an.

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So wie gerade jetzt.
Eben noch über die verspätete Abfahrt verärgert, dann erfreut über den fast leeren Wagon und dann die Erkenntnis, dass der Preis für den Platz ein paar Grade auf dem Thermometer weniger sind als in den besser besuchten.

Doch das alles stresst nicht im geringsten.
Teenie, nun schon fast erwachsen, hat längst kein Problem mehr, einen Zug pünktlich zu erreichen. Aus der eher unsicheren Schülerin ist eine selbstbewusste junge Frau geworden, die nicht nur unsere Koffer locker die Treppen hoch trägt, sondern das Zupacken auch in anderen Lebenssituationen zunehmend gut beherrscht.
Aus Sicht der Menschen, die Erfolg im Leben an Zertifikaten jeglicher Art festmachen, mag sie noch immer ein „Problemfall“ sein.
Ich hingegen sehe einen jungen motivierten Menschen, der sich auf seine Weise in die Welt wagt um sie zu entdecken und seine selbstgesteckten Ziele zu erreichen.

Ein wenig Wehmut spielt auch hinein: seit Verlassen der Schule liegen die Ziele zunehmend nicht im Bereich der elterlicher Nähe.
Ich erinnere, mit 17 wohnte ich in Gedanken auch schon nicht mehr zu Hause und gehörte zu den jungen Menschen, die schon vor der Ausbildung ein eigenes Domizil hatten.
Insgesamt macht mich diese Entwicklung froh und stolz, habe ich doch damit eines meiner Ziele erreicht.

Wie schade, dass ich meine Gedanken zu diesem Gefühl nicht mehr mit meiner Mum austauschen kann….
Elternlos.
Wirklich erwachsen bin ich erst in diesem Jahr geworden.
Was mir zeigt, dass ich nicht kinderlos sein werde, wenn meine Wohnung in absehbarer Zeit zu groß für mich wird.

Auf dem Weg.
In einen Lebensabschnitt, der alt werden heißt.
Hört sich an nach Sofa, Ruhe, alles schon gesehen.
Oder eher nach Zeit für neue Projekte, Freiheit, nicht mehr so gefallen müssen und Erfahrungen neu ( und anders?) nutzen können?

Meine Ideenkiste ist noch nicht leer.
In diesem Jahr musste ich so viel los lassen – warum nicht auch das Gefühl, for ever young zu sein?
Ist bestimmt gar nicht so schlimm, wie die Werbung uns glauben machen will.

Der Zug zockelt gemächlich durch die Landschaft.
Gleich werde ich sehen, dass ich nicht die Einzige bin, bei der die Zeit vergangen ist. Mir liebe Menschen, sehr lange nicht gesehen…..was werden jetzt unsere Themen sein?

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Kleinkariert

Mit dem Zug unterwegs.
Selbstverständlich Sitzplätze reserviert: 2 x Fenster mit Tisch, Großraum, Handybereich. Neuerdings kann man sich online sogar die Position der Plätze im Zug anschauen, für die man einen zusätzlichen Obolus abdrücken muss. Service.

Aber nun sitzt auf dem Fensterplatz in Fahrtrichtung, den laut Ticket mein Teenie einzunehmen hat, eine gepflegt aussehende Dame jenseits der 60, mindestens.
Überraschender Weise bleibt Teenie locker…und setzt sich auf meinen Fensterplatz, rückwärts fahrend. Die beiden Plätze am Gang sind frei von Personen, der neben der Dame ist jedoch besetzt von ihren 2 eleganten Ledershoppern.
Gut, ich kann mich auch auf den noch leeren Platz setzen. So tief bin ich noch nicht gesunken, dass ich Theater um reservierte Plätze mache.

Mein Blick wandert immer wieder zu der Dame hin. Herunter gezogene Mundwinkel, graue Lodenjacke mit tannengrünem Samtkragen – innen rot ausgeschlagen – blondierter Bob.
Nickelbrille mit dicker, transparenter Brillenglasfassung, bleu; die Bügel dunkelblau, flach und breit. Sie strickt etwas Rot-Tannengrünes mit sehr gleichmäßigen, ordentlichen, strammen Maschen.
Leichter Unwillen steigt in mir auf.

Ich lese ….. Und sehe sie wieder an. Ihre Miene unverändert: starr, distanziert, fast böse.
Nun schaut sie aus dem Fenster…. ja genau da wo mein allerliebstes Kind jetzt rausschauen können müsste, an das ich jeden Fensterplatz der Welt gerne abtrete.
Ihr Fuß trifft unbeabsichtigt meine Tasche, die ich unter den Tisch stellen musste. Weniger unabsichtlich wandert mein Fuß gegen ihren und gemächlich mit leicht entrüstetem Blick in meine Richtung zieht sie ihren zurück.
Ich sage nichts.
Ihr dickfälliges Ausbreiten macht mir Unbehagen und ich setze schweigend mein Ausbreiten dagegen.
Säße da ein mir sympathischer Mensch, keinen einzigen Gedanken verschwendete ich an Platz-Klau und -Einnahme .

Starte einen neuen Ablenkungsversuch. Erfolglos.
Meine Gedanken nehmen Fahrt auf. Was bildet die sich ein? Kann sie nicht 1. Klasse fahren? Was äugt die überhaupt so skeptisch in unsere Richtung?
Kann man entspannt atmen mit so verkniffenen Lippen? Bekommt man keinen Kiefermuskelkater? Sollte sie ein kleines Geheimnis namens Botox haben?
Ich denke mich in Rage….
Sämtliche Vorurteile , die ich gegen Menschen hege, bei denen ich aktive Inanspruchnahme von Privilegien zu Lasten der Mehrheit ( klar, und damit auch mir und meiner Familie) vermute, werden aktiviert.

Menno. Es ist nur ein blöder Sitzplatz. Soll sie doch selig werden.
Aber sie hört nicht auf zu so zu gucken, als wenn es noch nicht einmal unserer Recht wäre, mit ihr an diesem Tisch zu sitzen.

Wir sind fast da.
Mit ihrem Robotergesicht wird sie in ein Taxi steigen oder vielleicht holt ihr Roboter-Mann sie vom Bahnhof ab. Dann fährt sie in ihre Roboterbehausung und wird sich von der Fahrt inmitten des gemeinen Volks erholen.

Vorher noch ein Lichtblick: die kleine Paula, drei Reihen hinter uns hat die Nase voll vom still sein.

Auf der Mauer auf der Lauer……

….. durch den Wagon geschmettert gibt der Dame einen weiteren Anlass fürs böse Gucken.

Was mich wieder aussöhnt mit den Reiseumständen.
Merci, petite Paula!

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