Atmender Lebenslauf

Nun sitze ich hier also, in der ersten Senioren- Vorlesung meines Lebens.
Uiiiiih….damit hatte ich so nicht gerechnet.
Diese Vorlesungsreihe an der Uni ist nicht etwa für Senioren ausgeschrieben, aber es sieht so aus.

Der Hörsaal riecht genau wie früher und weckt Erinnerungen an schleppende Minuten meines Studiums. Von Stunden kann ich nicht reden, denn es war mir unmöglich, der einschläfernden leb- und lieblosen Darstellung von Gesetz und Recht viel länger als eine halbe Stunde zu ertragen. Dann lieber ein Flugblatt zur Ungerechtigkeit der Welt gepinselt oder mich physisch verabschiedet. Ich liebte die Randplätze und habe auch heute vorsorglich einen solchen eingenommen.
Im Rahmen einer interdisziplinären Ringvorlesung der hiesigen Universität erwartet mich heute das Thema:

Momente – Perspektiven und Wahrnehmungen von Zeit

Prof. Dr. Ulrich Mückenberger hat sich Gedanken über das ‚Recht auf eigene Zeit‘ gemacht.
Irgendwie sonderbar, war er doch schon Professor, als ich noch Studienanfängerin war.
Wie die Zeit vergeht….

Das Thema Zeit hat mich schon immer fasziniert.
Mein eigenes, (zu) schnelles (Lebens-) Tempo. Das gegenteilige von Teenie.
Zeit spielt eine Rolle beim Musizieren, in der Komunikation, Arbeiten….und Ruhen.
Zeit wird unterschiedlich wahrgenommen . Unterschiedlich genutzt. Zu oft wird eine individuell sinnvolle Nutzung und Einteilung verhindert durch Rahmenbedingungen, die den Bedürfnissen der/des Einzelnen widersprechen.

Die Ideen des Profs sind so neu nicht.
Er arbeitet schon lange an diesem Thema, nicht allein, sondern in der Gesellschaft für Zeitpolitik..
Die Vorschläge sind nicht realistisch im Sinne von eben mal gemacht.
Immerhin hat sich auch die EU schon Gedanken darüber gemacht, in der Sozialcharta von 2010.

8. Abschließend ruft der Kongress das Ministerkomitee des Europarats auf, das „Recht auf Zeit“ einzubeziehen. Er empfiehlt dem Ministerkomitee, die relevanten Organe des Europarats aufzurufen, insbesondere jene, die sich mit der Gleichstellung der Geschlechter und sozialem Zusammenhalt befassen, sich ausdrücklich mit der Zeitpolitik zu befassen und die Zeitverwaltung in ihre Aktivitäten aufzunehmen, zusammen mit den Konzepten „Zeit-Wohlbefinden“ und „zeitliche Lebensqualität“. Quelle

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Ich höre vom Einheit des Alltags.
Der zerrissen sei in ein Puzzle.
Zerissenheit habe ein Geschlecht: sie sei weiblich.
Die Sicherstellung der eigenen Zeit, womit eine selbstbestimmte Zeiteinteilung gemeint ist, sei zunehmend prekär.
Die Anerkennung eines „Atmenden Lebenslaufs“ führe weg vom starren 3 Phasen Modell: Ausbildung, Arbeit, Ruhestand ( Karin Jurzyk 2013 hier und hier ).
So laufe das heute längst nicht mehr, wir tun nur noch so.

Es lohnt sich, mal genauer über die Ressource Zeit nachzudenken. Zeit als kulturelles Medium zu verstehen.
Selbstbestimmung einzufordern und zu gewähren.
Das hat auch etwas mit Demokratie zu tun.
Neue Rechte entwickeln sich immer wieder einmal: z.B. das allgemeine Wahlrecht. Oder das Recht auf informelle Selbstbestimmung, das 1992 im Volkszählungsurteil als Grundrecht anerkannt wurde.
Wie viele andere Rechte wird es mit Füßen getreten, was jedoch nichts an seiner Existenz ändert.
Am Anfang steht fast immer eine abwegige Idee, sind es ‚ Fantasten ‚ , die diese Idee verfolgen und voran treiben …..das schreckt mich nicht.

Im kleinen habe ich mir mein „Recht auf Zeit“ längst zurück erobert . Konflikte in Beruf und Familie inklusive.
Beruf und später auch Mutterschaft hatte mein inneres Zeitkonzept massiv gestört. Über die Jahre war ich nicht nur aus meinem Takt gekommen, sondern irgendwie aus der Welt gefallen.
Ich bin wieder reingeklettert und achte fortan auf meinen Rhytmus.
‚Nein‘ ist ein wunderbares Wort , wenn es zum ‚Ja‘ zu sich selbst führt. Damit meine ich nicht den Ego-Elllenbogen- Trip!
Wieviel leichter wäre es, wenn das gesellschaftliche Korsett weniger starr wäre!

Welche Mengen an Lebensenergie werden täglich verbraucht, um gegen den fremdbestimmten Zeittakt anzukämpfen?
Lernen, wenn man müde ist. Büffeln statt spielen.
Prüfungen nehmen die Zeit zum erwachsen werden.
Zeit haben, wenn man arbeiten möchte. Keine, wenn die Familie ruft. Urlaub machen, wenn der Betrieb steht und keinen, wenn Hochsaison ist. Nachtarbeit für Nachtigallen, Frühschicht für Eulen.
Nach der Rente nix zu tun, vorher umso mehr.
Einmal Teilzeit – immer Teilzeit.
Ehrenamt als Luxus. Kultur ebenso.
Und Muße erst….

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Wie soll das alles bezahlt werden?
Auch hierfür gibt es eine Idee:
Wenn die Zeit im Rahmen einer Erwerbstätigkeit verbracht wird – und dazu gehört auch berufliche Weiterbildung- zahlt der Arbeitgeber. Nutzt das Engagement der Gesellschaft , zahlt Allgemeinheit.
Wenn es reines Privatvergnügen ist, wird auch privat gezahlt.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte die finanzielle Basis sein, auch dazu gibt es schon viele Ideen.

Unausgegoren, klar.
Aber ich halte es in diesem Fall mit Hermann Hesse:

Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.