Seitdem ich im Theater das Jugendstück “ tschick“ nach dem Roman von Wolfgang Herrndorf gesehen habe, mache ich mir wieder einmal verstärkt Gedanken über Sex.
Kleiner Rückblick:
„Zu meiner Zeit“, also vor vielen, vielen Jahren, gab es ein wenig Aufklärung im Bio- Unterricht, vermutlich in der 7. Klasse. Den Rest wussten wir vom Hörensagen und als ich dann meinen ersten festen Freund hatte, folgte ein Gespräch mit meiner Mum, in dem ich aber nichts wirklich Neues erfuhr und dessen Headline „Hauptsache verhüten“ lautete. Begierden, Gefühle oder Detaills jeglicher Art blieben außen vor. Es fiel ihr nicht wirklich leicht, offen zu sprechen aber ich war pubertätsmäßig gnädig und ließ es über mich ergehen.
Verglichen mit heute liefen wir Mädels „anständig“ herum. Rote oder schwarze Spitzenunterwäsche war nicht für jedefrau vorgesehen, sondern gehörte in eine ganz besondere Welt.
Unsere Freunde waren nett bis aufdringlich, Jungs eben. Auf Partys wurde geknutscht, dunkel war es auch, aber das war’s dann auch schon.
Nein, eine schrille Szene gab es: die Jungs hatten irgendwo einen Porno aufgetrieben und der wurde auf einer improvisierten Party angeschaut- äh, wir Mädchen waren schockiert und sind wütend abgedampft. Wenn ich mich recht erinnere, war das Filmchen vergleichsweise harmlos zu dem, was heute für Jugendliche zugänglich ist .
Es folgte die Zeit der lila Latzhosen.
„Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ von Alice Schwarzer machte die Runde.
Sexualität spielte eine große Rolle und sie wurde durchaus kritisch betrachtet. Erstmals wurde weibliche Sexualität von Frauen selbst thematisiert.
Diätenwahn, Doppelmoral, Kinder Küche Kirche , sexualisierte Gewalt – das waren aktuelle Themen.
Meine Mum hatte diesbezüglich einen leichten Job.
Frauen wollten gerade nicht mehr Objekt männlicher Begierden sein und entdeckten gemeinsam, was sie selbst wollten und was eben nicht. Ein durchaus widersprüchlicher Prozess.
Haben die Frauen kein Geld für einen Mantel?
4 Jahrzehnte später sah ich mich genötigt, meiner kleinen Tochter zu erklären, warum die Frauen auf den Werbeplakaten fast immer Nackedei sind und die Männer nicht.
Im Schwimmbad in der Familienumkleide sahen erstaunte fremde Kinderaugen anscheinend das erste Mal eine Frau im Naturzustand, fand ich gar nicht angenehm und ging zukünftig mit Töchterchen in so ein enges Umkleidekämmerchen.
Wider den Trend – oder sollen kleine Mädchen ( und Jungen) nicht wissen, wie echte erwachsene Frauen aussehen? (1) Wie sollen sie denn ihre eigenen Körper akzeptieren und lieben lernen?
Das Kind wuchs heran und das Thema begleitete uns.
Schon in der Grundschule liefen kleine Jungs mit einschlägigen Bildern auf dem Handy herum.
Bereits in der 5. Klasse hatten Klassenkameradinnen Slips an, “ bei denen man den ganzen Po sieht“.
In der 7. Klasse musste ich dann schon damit rechnen, dass Besucherkinder keine Nudeln mit Sahnesoße essen würden, wegen der Figur.
Sexualisierte Werbung war und ist allgegenwärtig.
Nun steht Teenie stundenlang vorm Spiegel.
Will attraktiv, auch sexy sein aber nicht würdelos.
Ich kann ihr nicht raten – habe ja keine Ahnung von nichts.
Ab und an ein offenes Gespräch, wenn es mal passt…..und immer den Eindruck, dass ich nicht die richtige Gesprächspartnerin bin.
Ab der dritten Klasse gibt es heute Aufklärung in der Schule.
Später noch einmal im Bio-Unterricht und noch später sogar eine ganze Projektwoche zum Thema.
Nicht 1 Mal hatte ich das Gefühl, dass dort unsere aufdringliche, sexualisierte Werbewelt und alles, was die Kids von frühen Lebensjahren an zu müllt, kritisch betrachtet wird.
Die in Jungs und Mädchen getrennte Unterrichts-Teile bezogen sich nur auf Verhütungs-Fragen.
Ich bin erschrocken, wenn ich sehe und lese, wie selbstverständlich junge Frauen heute versuchen, ihre Körper durch Sport, hungern, extrem einengende Kleidung oder Operationen den vermeintlichen Anforderungen an eine attraktive Frau anzupassen. Was sie alles dafür in Kauf nehmen. Welchen Stellenwert es hat.
Dabei geht es längst nicht mehr nur um Nasen oder Brüste. Mittlerweile sind Frauen in den USA und Europa zunehmend mit ihren Schamlippen unzufrieden und lassen sie wunschgemäß zurecht schneiden. hier
Die Jungs bleiben ( immerhin) nicht verschont: auch Sixpacks und Knackar*** gibt es beim Schönheitschirurgen. Quelle
Sexualität ist anscheinend nur etwas Äußerliches.
Gleichzeitig wird die romantische Liebe verklärt wie schon lange nicht.
Mich schreckt, was Jungen/ junge Männer alles als selbstverständlich ansehen und von Mädchen / jungen Frauen und sich selbst erwarten – bekommen doch auch sie ein bestimmtes Rollenbild immer wieder vorgeführt.
Unwissend, wie wir früher waren, hatten wir Gelegenheit, uns langsam heran zu tasten, try and error. Die Sache mit den naturtalentierten Liebhabern hielt ich schon immer für eine Mär, jedoch weniger für ein Ammenmärchen denn ein Macho- Gerücht.
Zu sagen: „das gefällt mir nicht“ und „das möchte ich“ ist gerade für Jugendliche ungeheuer schwer.
Anno dunnemals ging es eher darum, ob ein Junge auch mal unters Hemd grabbeln darf – heute haben weibliche Teenies mal eben einen „blow job“ zu erfüllen.
Es ist eine Gratwanderung, nicht total altbacken daher zu kommen und dennoch dem geliebten Töchterchen mitzugeben, was sexuelle Sebstbestimmung bedeutet.
Einige gute Bücher haben uns je nach Alter begleitet:
Mein erstes Aufklärungsbuch ( Kids ab 5)
Wie ist das mit der Liebe? ( Kids ab 9)
Ganz schön aufgeklärt ( Kids ab 11)
Und wer es ein wenig crazy mag, hier unser absoluter „Geheimtipp “ : Wenn Herzen klopfen.
Tolles Material für Jugendliche hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, deren Broschüren auch in den Landeszentralen für politische Bildung kostenlos erhältlich sind.
Ein Internetportal steht für Fragen und Austausch zur Verfügung: loveline.de
Pro Familia ist nicht nur vor Ort, sondern auch im Netz erreichbar für Jugendliche: sexundso.de
Klar, dass es nicht reicht, das Material zur Verfügung zu stellen. Manchmal sollen Mütter auch was dazu sagen. Oder erzählen, wie das so ist…
Aber zurück zu “ tschick“ .
Eine leicht freizügige Szene mit einer jungen Frau, ein angedeuteter Kuss zwischen 2 Jungen Männern und ein Raunen, Gekicher und Gezappel ging durch die meist von Jugendlichen besetzten Sitzreihen des Theaters. Meine Begleiterin hielt sich sicherheitshalber die Augen zu.
Über Sex reden, sex(istische)- Fotos und mehr ansehen ist das Eine ….. und es dann so nah erleben und sei es nur angedeutet, huh … da sind die heutigen Teenies noch genauso verschämt wie wir Dinosaurier damals.
Wie beruhigend.
(1) anscheinend nicht, denn es kostete mich Stunden, ein Aufklärungsbuch für Kinder zu finden, in denen Frauenkörper nicht wie Kinderkörper mit Brüsten dargestellt wurden
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