2018 over

2018 war hier meistes Sendepause. Dabei gab es genug Themen, zu denen ich hätte bloggen können. Mehr als genug. Rheumi gab mir 2017 Gelegenheit, mir Gedanken über grundsätzliches zu machen und konkretes zu planen. Im denken und planen bin ich gut und das mündet in (oft) grandiosen Plänen, deren Umsetzung etwas schwieriger als deren Entstehung ist und hängt leider nicht nur von mir allein ab.

Weichen stellen

Pläne lassen sich nicht verwirklichen, wenn man nicht bereit ist, Entscheidungen zu treffen. Manchmal sind es nur Nuancen, die angepasst werden, manchmal reißt man das Ruder rum, um einen anderen Weg einzuschlagen. 

Ohne Moos nix los

Beruflich hätte ich gern letzteres getan, aber von irgendwas muss ich leben und deshalb reichte es nur zu minimalen Anpassungen. Immerhin habe ich meine relative Gesundheit erhalten und aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Neben dem, was nach fast 30 Dienstjahren nicht mehr ganz so spannend und inspirierend ist, konnte ich in diesem Jahr wieder meinen Lieblingsworkshop durchführen und politisch engagierten Menschen zu mehr „Stimme“ verhelfen. Nein, keine Rhetorik- es geht um den Einsatz und Training unserer Sprechwerkzeuge, und jeder Workshop ist voller aha-Momente auch für geübte Redner_innen. Außerdem lachen wir uns über uns selbst schlapp, wenn Verhaspler, Kickser und Koordinationsschwierigkeiten mal überhand nehmen.
Bitte mehr davon in Zukunft.
Soviel sei verraten: ich stricke an einem Konzept für junge Autist_innen, die mehr Sicherheit in Gesprächen erlangen wollen. Darauf bin ich sehr gespannt.

Verdummt euch doch selber

Im Frühjahr war das Maß voll.
Lieber keine Maßnahmen von welchem Sozialträger auch immer als solche, in der Würde, Selbstbestimmung und Entwicklung nichts als leere Worthülsen sind.
Auch keine Begleitung von Therapeut_innen, die es nicht ertragen können, dass es nicht um Heilung bei Autismus geht. Die soziale Anpassung
(Maskierung) dafür halten, um sich selbst erfolgreich zu fühlen.
Seitdem Twen nicht mehr von sogenannten Fachleuten in die Selbstverleugnung, Unselbständigkeit und Depression getrieben wird, geht es ihr zunehmend besser.
Wir trauten uns kaum, diesen krassen Schritt zu gehen, weil ja Nichts-(erwerbsmäßiges)- Tun das vermeintlich Schlimmste überhaupt in unserer Leistungsgesellschaft ist. Und weil es doch für jede_n eine passendende Maßnahme gäbe.
Für Twen und auch für mich als Begleiterin ist es richtig wie es jetzt ist. Andere Jugendliche bekommen 1 Jahr Ausland gesponsert. Und ich soll mich schlecht fühlen, wenn ich meinem Kind 1 Jahr Auszeit von institutioneller Diskriminierung, Bevormundung und Demütigung schenke? Wenn Twen später evtl. einen miesen Job machen muss, dann wenigstens gegen Entgelt und nicht nur für Taschengeld weit unter Mindestlohn. Aber soweit ist sie noch nicht. Kommt Zeit, kommt Rat. Und mit etwas Glück: Tat.

Durchgeboxt

Einfach teilhaben–  so heißt eine Broschüre des BMAS, in der die Möglichkeit von Teilhabe-Leistungen als persönliches  Budget (PB) erklärt wird. Wer das PB bekommt, kann sich seine Assistenzleistungen mit dem ihm zur Verfügung gestellten Geld selbst einkaufen. Das heißt, die Assistent_innen selbst aussuchen und tritt als Arbeitgeber_in auf, nicht als Teilnehmer_in irgendeiner Maßnahme. Ein großer Schritt in Richtung Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen.
„Einfach“ zu haben ist das aber nicht.
Zumindest in der Stadt der Pfeffersäcke bevorzugen die Sozialbehörden pauschale Leistungen an große Maßnahmeträger, in deren Konzept sich die Menschen mit Behinderungen dann mit (oder entgegen?) ihren Bedürfnissen einzufügen haben.

Obstinat

Schon meine Oma sagte immer zu mir: sei doch nicht so obstinat!
Doch, bin ich. Besonders bei Behörden und wenn es um Twen geht. 
Deshalb kann Twen jetzt selbst bestimmen, wer sie unterstützt, natürlich in dem Rahmen, in dem ihr vom Amt Unterstützungsbedarf zugestanden wird. Dafür bekommt sie ein monatliches Budget, mit dem sie ihre Leute bezahlen kann.
Das Ganze war für uns sehr anstrengend und eine, wenn auch unfreiwillige Bildungsmaßnahme zugleich.
Nun freue ich mich darauf, dass ich mein durch diesen Höllenritt erworbenes Wissen 2019 weitergeben darf als Referentin in diversen Autismus -Selbsthilfegruppen und Vereinen.

Dreamteam 

Unser Fell-Peer Locke ist das Beste, was sich dieses Jahr in unser Leben gewuselt, getobt und geschmust hat. Twen und sie sind ein Dreamteam. Seit September sind die beiden  ein Azubi-Team in der Assistenzhundeschule. Sie machen beide ihre Sache bestens.IMG_1896 Im kommenden Frühjahr legen beide ihre erste Prüfung ab und bis dahin wird noch fleißig geübt. Dann gibt es auch eine Erwachsenen-Kenndecke 🙂
Das Verhalten von Kaniden und Pferden -und ihre Bindung zu Menschen – ist u.a. schon lange Twens Spezialthema und ich staune immer wieder, wie einfach und tiefgreifend die Verständigung zwischen ihr und Tieren ist. Und wie leicht sie im Umgang mit Tieren ihr theoretisches Wissen umsetzt.
Twen bekommt nun endlich eine konkrete Vorstellung davon, was Teilhabe heißen kann: so viele freundliche und wertschätzende Kontakte zu anderen Menschen hatte sie noch nie. 

Zur Kasse bitte und draußen bleiben

Schlecht ist leider die Rechtslage in Deutschland, was die Anerkennung von Assistenzhunden als Hilfsmittel angeht. Das heißt, Anschaffung und Ausbildungskosten trägt der Hundehalter.
Damit sich das ändert, wird Pfotenpiloten e.V. im kommenden Jahr eine
 Zutrittskampagene, unterstützt vom BMAS, durchführen. Achtet mal drauf.  Ausgebildete Assistenzhunde sollen überall willkommen sein, wo Menschen sich in Straßenkleidung aufhalten dürfen. In anderen Ländern schon längst kein Problem mehr. Dort gibt es Standards für die Ausbildung und klare Rechte auch für Assistenzhunde, die nicht Blindenführhunde sind.

Platz da

Mit einem heldenhaften Einsatz hat die weltbeste aller Nichten mich vom Chaos meiner langjährig gehorteten Bürokratie befreit. Sie staunte nicht schlecht, was für Kram man im Leben alles ansammeln kann, welche absurden Schriftwechsel geführt werden und verdammt noch mal: so viele Behörden gibt es? Fortan heißt es, wehret den Anfängen, was leichter gesagt als getan ist. Ablage ist noch schlimmer als abwaschen als Wassergymnastik..
Kleiner Tipp: Tapeziertische sind multifunktional.

Engagement

Es ist toll, wenn man Ideen verwirklichen kann. Wenn man Mitstreiter*innen hat, die mit einem gemeinsam Dinge voran bringen.

Trampelpfade

  • Netzwerk

2018 war ein Jahr, in dem uns das mehrfach gelungen ist. Aufgrund einer großen Veranstaltung 2017 zum Thema Arbeit und Beruf für Autistinnen ist ein Netzwerk der norddeutschen  Berufsbildungswerke entstanden, in dem konkret personenzentrierte Maßnahmen entwickeln werden. Das Schöne dabei: das Eltern-Know-How wird abgefragt  und auch Betroffene sind einbezogen.

  • Fachtag

Mit einem Fachtag „Wege entstehen, indem man sie geht“- im Herbst zum selben Thema erreichten wir 160 Menschen. Fachkräfte der Maßnahmeträger, Verantwortliche der Kostenträger und Verbände sowie Arbeitgeber_innen.  Die Resonanz war sehr positiv: erstmals hatten wir es vor Ort geschafft, dass sowohl NTs als auch ATs referierten oder Workshops leiteten. Auf Augenhöhe. 

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Dr. Riedel, Universität Tübingen

Deutlich wurde, wie viel Unwissen es noch immer über das Autismus Spektrum gibt und wie hartnäckig sich Vorurteile über Möglichkeiten der Berufsausübung halten. Etwas aufgeräumt damit  hat ein Arbeitgeber, der mit der Beschäftigung einiger Autist_innen, darunter auch ein  Rettungssanitäter,  gute Erfahrungen gemacht hat.

Muss ich noch erwähnen, dass das Team Twen-Locke dabei war und in vielen Einzelgesprächen Aufklärungsarbeit geleistet hat?

Einfach Meer erleben

Die größte Schnapsidee des Jahres war unsere Urlaubsreise an die Steilküste der Ostsee mit uns zuvor nicht bekannten jungen Autistinnen. 

Ich ärgere mich schon so lange darüber, dass es für junge Autistinnen keine guten Reiseangebote gibt. Also habe ich kurzerhand gemeinsam mit Twen und Locke eines entwickelt. Mein Job war im Wesentlichen die Organisation dieser abenteuerlichen Expedition von 6 Frauen und 3 Hunden und die Koordination vor Ort.

Vieles habe ich dazu gelernt, z.B. was besser ganz klar im Vorfeld abgeklärt werden sollte. Sagen wir mal so: wäre es eine NT-Reisegruppe (oder Seminar) gewesen, so hätten spätestens am ersten Abend die wechselseitigen Ausgrenzungsmaßnahmen begonnen. Wir aber waren ALLE daran interessiert, trotz unserer Unterschiedlichkeiten einige erholsame Tage miteinander zu haben und die gegenseitige Toleranz war entsprechend hoch.IMG_1931
Das ist Motivation für weitere Reisen dieser Art. 
Im Gegensatz zu herkömmlichen Angeboten wird es weder pädagogische, noch therapeutische Begleitung geben, sondern nur eine organisatorische Klammer. 

 

Wohn-Idee

Kleine Wohnungen für junge Autist_innen. Dafür sorgt unser kleiner Verein, der mit einer Wohnungsbaugenossenschaft eine Kooperation eingegangen ist. Alleine wohnen, ohne zu vereinsamen. Das ist die Idee. Da stecke ich gerne Energie rein. Nicht ganz uneigennützig.

Die Weltlage 

Krieg, Flucht, Rassismus, Diskriminierung,  Ausbeutung, Umweltzerstörung. Zu viele Menschen, denen das bestenfalls egal ist. Zu wenige, die sich für einen Gegenentwurf engagieren.
Soviel dazu.

Musik, Freunde und Kultur

… kamen 2017 zu kurz. Das Cello glotzt mich vorwurfsvoll an. Für 2019 habe ich Besserung gelobt. Einige Tickets sind schon geordert. Im Chor wird zunehmend nicht nur gesungen, sondern auch gefeiert. Das wurde mir oft zu viel. Der Auftritt in der Elphie und unser Jahreskonzert waren toll.  Ein Doppelkonzert habe ich geschwänzt und auch unsere Studioaufnahme. Mein Agreement deshalb mit dem Chor für die Zukunft: singen ja, Smalltalk in Großgruppen eher nein. 

6 Jahrzehnte Gurkenbekannte *

Ich bin ein Kind der Dunkelheit, wenn man von der Rundum-Festbeleuchtung der weihnachtlich geschmückten Umgebung absieht. Noch bevor das Hosianna am heiligen Abend in den Kirchen erklingt, gibt es für mich jährlich ein Geburtstagsständchen. Diesmal etwas lauter angesichts meines ehrwürdigen Jahrestages. 

Meine lieben mehr oder weniger speziellen Freund_innen, Bekannten und Kolleg_innen waren geladen und sogar erschienen. Da der kleinste gemeinsame Nenner der meisten von ihnen Zerstreutheit ist, wurde immer wieder vergessen, wann es denn losgeht und wann endet. Das war jedoch nicht weiter schlimm. Fast alle hatten eine längere Anreise, es fand eh´ vor den Stadttoren statt und so kamen einige bereits am Freitag in der Unterkunft an, andere blieben bis Montag. Dank meiner geduldigen Erinnerungs-Nachrichten klappte es dann doch mit einer gemeinsamen Feier ALLER Gäste. Für Twen, Locke und mich war es jedoch ein 4-Tage-Feier-Marathon.
Schmerzlich vermisst  habe ich meine beiden Schwestern und meine Mutter, die mich vor 4 Jahren vom Mitglied eines Weiberclans zur geschlechterparitätisch besetzten Hälfte einer Restfamilie – zumindest wenn man die Nachkommen außer Betracht lässt – gemacht haben.
Erfreut war ich hingegen über einen großen Tisch mit politisch interessierten und engagierten Youngstern der Familie.

Knobeln und Hibbeln

Puzzlespiele und Holzkreisel  auf den Tischen ersetzten die mir empfohlene anfängliche Schnitzeljagd zum Kennenlernen der anderen Gäste
(allgemeine Erleichterung),  Twen führte Interviews mit ausgewählten Gästen durch ( Erhellung und Erheiterung ) , es gab die erste widersynnige Gurkenpreisverleihung an die schrägsten meiner  Lieben
(Spaß und wohlwollende Verwunderung ) und ordentlich Speis und Trank.

Satz mit X

Ja, das gab es auch in diesem Jahr. Missglückte Versuche, unrealistische Pläne, die üblichen Fahrplanabweichungen des Lebens. So what…

Tempo raus

Gefühlt  hatten wir in diesem Jahr Veränderungen im viertel-Stunden-Takt. Und dabei ist doch gar nicht so viel passiert. Alleine die Abwesenheit diverser Energiefresser hat  viel Lebensqualität gebracht. Und dann noch dieser Sommer. Seit langem eine positive Bilanz.  Twen schaut bei aller materiellen Unsicherheit zuversichtlich in die Zukunft. Dennoch – nach diesem ereignisreichen Jahr darf es ruhig wieder etwas ruhiger werden.  Neue Verbindungen und Veränderung, ja. 
Aber alternsgerecht, wenn ich bitten darf.
Dann bleibt auch wieder mehr Zeit für meine Freund_innen.
Wir sind bereit für 2019.

Euch, liebe Blogger_innen und Leser_innen…

… möchte ich weiterhin nicht missen, weder aktiv noch passiv. Über Kommentare freue ich mich immer und auch wenn in diesem Jahr hier weniger blogs zu lesen waren, so habe ich dennoch viele von euch gelesen. So manches Mal habe ich überlegt, ob ich diesen Blog weiterführen will. Zu viel Privatkram? Oft schon habe ich eure schlauen Gedanken bei der Bewältigung meines Alltags aufgegriffen. Dafür vielen Dank. Ich schreibe weiter, vielleicht kann ich ja was zurückgeben damit.

Euch allen frohe Festtage und einen guten Start in ein engagiertes 2019.

Eure LEIDENSCHAFTLICHWIDERSYNNIG

* Teenies pubertäre Bezeichnung für meine wunderbaren  neurodiversen Freund_innen

 

 

Neurodivers durch die NoG20 -Tage

Ganz von allein wache ich heute morgen auf. Irgend etwas ist anders. Ich horche. Ein Bus fährt an. Ein PKW rollt vorbei. Es dauert eine Weile, bis ich kapiere, dass es das Ratta-ratta-ratta-ratta der Militärhubschrauber ist, das fehlt. Kein einziges Lalülala zu hören.
Ein Blick auf die Uhr: schon fast 09:00 h – ungewöhnlich für die letzten Wochen. Teenie erscheint kurz danach auf der Bildfläche, findet diese Ruhe richtig unheimlich.

Grundsätzliches, auch wenn alle nur über Krawall reden

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Kulisse in der leeren Innenstadt – 1 Woche vor dem Gipfel

Ihr werdet es mehr oder weniger in den Medien verfolgt haben: meine Stadt war Gastgeberin des G20, zu dessen politischer Bedeutung sich Gerhard Mersmann in form7 Gedanken  gemacht hat:

Diese Länder haben sich bereits seit 1999 das Recht herausgenommen, außerhalb der Vereinten Nationen über die Probleme dieser Welt zu reden und sie zu lösen. Die Differenzierung wurde vorgenommen, weil dieser G 20, in dem die leidende Seite dieser Welt keine Stimme hat, trefflich über alles redet, aber Probleme gelöst hat er bislang nicht. mehr

Eine Nachbetrachtung mit Blick auf unsere demokratischen Grundrechte nimmt Günter Urabanczyk vor:

Es ist jedenfalls ein Unding, dass wir im Fernsehen Bilder der Mächtigen dieser Welt sehen, ohne dass man zugleich Sprechchöre im Hintergrund hört und Demonstranten und Demonstrantinnen sieht. So kann das in Moskau, Ankara und Riad aussehen, aber nicht in Deutschland. mehr

Dass von Beginn an Deeskalation nicht auf der Agenda stand, wird sehr anschaulich  von Markus Reuter auf netzpolitk.org dargestellt:

Schon vor dem eigentlichen Start des G20-Gipfels zeichnen sich massive Einschränkungen von Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit ab. Das Verhalten von Polizei und Behörden verletzt nicht nur Bürgerrechte, sondern läuft einer Deeskalation bei den erwarteten Großprotesten zuwider. Ein Überblick. mehr

Neurodiverses Mitten-Drin-Sein

Wir leben nur einen Straßenzug entfernt des 38 qm großen Gebietes, in dem Hamburger Bürger*innen Grundrechtseinschränkungen zugunsten der G20 Teilnehmer*innen hinnehmen mussten. Unsere Teilnahme war nicht erwünscht, stille Zaungäste sollten wir sein und vor allem nicht zu dicht dran.

Schon Tage vor Beginn des G20 gab es hier kaum eine ruhige Minute. Helikopter, zunächst nur von der Polizei, dann auch die die vom Militär, schwebten über uns.  Leben hinter geschlossenen Fenstern. Durchschlafen war gestern.

Das Straßenbild wechselte von normal zu Polizei-Auto-Korso zu leergefegt.

Kein Treffen mit Freunden, in denen die Frage: „bleiben oder die Stadt verlassen?“  nicht thematisiert wurde.

Je näher der Gipfel rückte, desto präsenter die Staatsmacht. Rund um die Uhr. Beim Einkaufen auf schwerbewaffnete Beamt*innen treffen. Immer wieder diese Helikopter. Das Eintrudeln der Hundertschaften aus anderen Bundesländern in Reisebussen der Polizei, die Ausfahrten der Wasserwerfer und Räumfahrzeuge auf den Straßen der Innenstadt, Sperrgitter -Vorrat am Rande des Fußweges. Unser schwer bewachtes Straßenfest, von dem aus immer wieder mehrere Mannschaftswagen mit Sirene los fuhren um nach 10 Minuten wieder am selben Platz zu parken.
S-Bahn-Fahrten in die Innenstadt, Stacheldraht umzäunt. Bahnhöfe mit herumstehenden, bewaffneten, jungen Polizist*innen.

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Nervosität macht sich breit. Sicherheit strahlt das alles nicht aus. Auch nicht für NTs. Wer aber um ein leichter zu alarmierendes Nervensystem, das Reize nicht mal so eben weg filtern kann, verfügt, ist um etliches angespannter, spürt, hört, sieht und –   nach den Krawallen in unserem Stadtteil-  riecht das  alles viel intensiver. Und keine Ruhe zum

verarbeiten, die Show geht weiter und weiter und weiter.

Obwohl wir gut mit Spannungszuständen und Overload umgehen können: in der Nacht zum Samstag brauchten wir die Unterstützung der ohnehin schon schwer beschäftigten Rettungssanitäter.

Da zieht es mich hin – ich will davon weg

Teenies und mein persönlicher Umgang mit dieser Reizflut kann unterschiedlicher nicht sein.

Obwohl Rheumi mit mir geschimpft hat, lasse ich mir mein Recht auf Protest nicht nehmen. Ich freue mich über die vielen jungen Leute, die sich fantasievoll mit ihrer Zukunft auseinander setzten und ihre Vorstellungen einen gerechten globalen Welt auf die Straße bringen. IMG_0185 (2)Ich staune über die tollen Ideen, die da zusammen gekommen sind, ob getanzt wird, sich mit Lehn beschmiert und durch die Stadt geschlichen, Sitzblockaden errichtet, Joga und was noch alles gemacht wird.

 

Geht ins Netz Leute, da werdet ihr so viel mehr finden als Krawall und Unvernunft.

Ich bin beschämt darüber, dass jungen Menschen das Schlafen im Zelt verwehrt wird und freue mich, wie gut sie damit umgehen. Sehe auch die Hilfsbereitschaft vieler Menschen und Institutionen wie Gemeinden und Theater.

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Soweit es gesundheitlich geht, bin ich dabei. Eine spontane Demo nach einer Lesung in der Musikhalle, selbstverständlich bei der Protestwelle im Vorfeld der Anreise der G20 Teilnehmer und gestern auf der Groß-Demo “ Grenzenlose Solidarität statt G20 „. Immer wieder Polit-Festival – Stimmung, gestört durch die martialisch auftretende Staatsmacht. IMG_2128Warum muss eine Hundertschaft im Gleichschritt quer durch sommerlich gekleidete und sich auf der Straße ausruhende Demonstrant*innen joggen und sich mittendrin positionieren? Dort 10 Minuten drohend  stehen, bevor es „Abmarsch“ heißt, ohne dass eine Gefahrenlage erkennbar war oder eingetreten wäre? So wiederholt geschehen. Das verunsichert und heizt die Stimmung auf.
Das ist das Gegenteil von Deeskalation.
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Etwas in mir schreit nach Ruhe und abschalten, aber es zieht mich dennoch hin zu allem, was aktiv ist. Letzteres  ist meiner politischen Einstellung geschuldet, aber auch meiner neurologischen Formatierung. Ich bin innerlich aufgeputscht.

Bei Teenie zu Hause das Gegenteil.
Hohe Anspannung aufgrund der extremen Lärmverschmutzung durch Helikopter und Sirenen und der sicht-und spürbaren Veränderung unseres Alltags. Busse werden umgeleitet, das Stadtbild ist verfremdet. Die Folge sind Gereiztheit, Appetitlosigkeit und Schlafstörungen; insgesamt ein Gefühl von Orientierungslosigkeit.
Nur zu Hause scheint es relativ sicher.
Vom Fenstersims aus Action Film und friedlichen Protest schauen.

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Blick aus Fenster G20

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Und so baut sich nach und nach der erste Overload auf, dank Entspannungs-und Selbststeuerungstechniken können wir immer wieder den großen Ausbruch verhindern.
Allein zu Hause sein ist kein gutes Gefühl mehr und so arrangieren wir uns mit meinem Wunsch, dabei zu sein und Teenies Schutzbedürfnis.

Als wir dann Freitag vom Lärm mehrerer Militärhelikopter, Leuchtkugeln, Polizeisirenen und aufsteigendem Rauch aus den Nachbarstrassen geweckt werden, steigt die Anspannung mehr und mehr. Und entlädt sich immer wieder in schockartigen Zusammenbrüchen.

Bittere Bilanz

Es sind anstrengende Tage und Nächte.
Wir erleben, dass es völlig egal ist, ob und wie Menschen von einem solchen Polizei-Aufgebot eingeschränkt und belastet werden, mal abgesehen von der politischen Bewertung der ganzen Veranstaltung.
Viele unserer Freund*innen waren immer wieder bei den unterschiedlichsten Protesten dabei und wir bekamen von zu Hause aus mit, was die Medien nicht zeigten.  Eine Freundin schrieb von der (seit Monaten herbeigeredet) berüchtigten Demo „welcome to hell“:
„Ich  bin erschüttert, wie diese fröhliche Veranstaltung kriminalisiert wurde. Die Polizei hat einfach die Straße blockiert. Später ist sie mit Wasserwerfern in die Demomenge, dort wo keine Vermummten waren. Die Demo wurde verarscht. Ich fahre jetzt nach Hause.“
Wie ich sie kenne, im Sommerkleid.

Politisch war dieser G20 eine Null-Nummer, was zu erwarten war.
Er hat nicht zu einer gerechteren Welt beigetragen.
Die Rechnung zahlen wir (wie immer).

Er  kostete uns Nerven und fügte unserer Demokratie Schaden zu.
Man darf sich fragen, ob hier nicht nur eine Exklusive-Polit-Show vor wem auch immer gesichert wurde, sondern ob es sich nicht gleichwohl um eine Real-Life-Übung der Sicherheitskräfte für Auseinandersetzungen ganz anderer Größenordnung gehandelt hat. Bei den Krawallen  Freitag Nacht hat die Polizei so lange mit dem Einschreiten gewartet, bis Anwohner*innen sich gegen Randalierer*innen gewehrt haben. Erst dann wurde geräumt. Auch in unserem Land geht die Schere zwischen Arm und Reich mehr und mehr auseinander.
Nachdenken.
Nicht nur für Teenie politische Bildung konkret.

Dank und Wünsche

Bedanken möchte ich mich bei allen Freund*innen und Bekannten, die uns in diesen heftigen Tagen unterstützt haben. Ihr habt uns mit Infos versorgt, weil wir selbst nicht dabei sein konnten und ward hier, damit ich draußen sein konnte. Ganz besonders geholfen hat Teenie der Tag auf dem Land – weitab von all dem Getöse. Mir hat er zudem die Gelegenheit verschafft, mich mit meiner angereisten Familie dem Protest gegen G20 auf der Straße anzuschließen.

Den jungen Menschen, die noch immer politische Ansprüche haben und deren Ziel eine bessere Welt ist, aber keine andere Möglichkeit sehen, als Randale zu machen, wünsche  ich Entwicklung und Einsicht.
Denjenigen, die sich vorschnell von allem distanzierten, das der Obrigkeit nicht gefällt  und lieber auf deren Demo (Hamburg zeigt Haltung)  mitliefen – und dann noch die Krawalle und nicht die Zukunft unseres Planeten in den Fokus rückten- mehr Mumm und Durchblick.

Menschen, die uns in den Rücken fallen, nur um ihre Aggressionen  loszuwerden, wünsche ich nix.

Wir, die Eltern dieser Generation mit unklarer Zukunft, sollten uns mal fragen, was Teile dieser dazu bringt, rücksichtslos Stadtteile zu zerstören.  Letzte Nacht in Hamburg – die im Bündnis organisierten politischen Aktionen waren alle vorbei – mischte sich der unpolitische Demo-Mob mit abenteuerlustigen Party-Touristen. Eine Saturday-Night der besonderen Art.  Wie viele davon fahren jetzt nach Hause in ihre wohlbehüteten Vororte zurück in ihr bürgerliches, leistungsorientiertes Leben?

Teenie und ich ruhen uns heute aus, jede auf ihre Weise.
Rheumi darf jammern.
Dieses Mal fand das elitäre Treiben bei uns statt. Die Politiker*innen bei euch sind sicherlich nicht weniger rücksichtlos als hier. Im Zweifel werden unsere Interessen untergeordnet.
Passt auf euch auf.
Und mischt euch ein, so lange es noch geht und so wie es für euch geht.
Nicht jede/r hält eine Demo aus. Aber jede/r kann irgend etwas zur Veränderung beitragen.

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Banner des Thalia Theaters

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