Dass einem der Atem stehen bleibt

Nebel im August – eine ganz persönliche Filmkritik

Dieser Film läuft nicht in den großen Kinos. Und auch in den Programm-Kinos nicht zu gewöhnlichen Kino-Besuchs-Zeiten am Abend. Nein, anscheinend kein Film fürs Hauptprogramm.

Auch ich habe ihn Sonntag zur Mittagszeit angesehen. Das Kino war gut besucht. Danach bestand die Möglichkeit, mit dem Regisseur Kai Wessels ins Gespräch zu kommen. Und  dann passierte das, was mir eher selten geschieht: mir fehlten die Worte. Um Fragen zu stellen. Um meine Eindrücke zu schildern.

Ernst Lossa, ermordet weil er anders war

Dem Film liegt eine reale Begebenheit zugrunde:

Im Alter von 14 Jahren wurde Ernst Lossa in der  Zweiganstalt Irsee der Heil-und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee  durch Injektion eines tödlichen Mittels von den Nazis ermordet. Weil er ein Jenischer war. Das waren  fahrende Händler und Handwerker, die von den Nazis wie sogen. Zigeuner verfolgt wurden. Für die Nazis war Ernst ein „asozialer Psychopath“ und fiel damit in die Gruppe, die mit dem Euthanasie-Programm Aktion T4 , der dann die „wilde Euthanasie“ folgte, vernichtet werden sollte:

Im Oktober  1939  verfasste Hitler ein Schreiben, das er auf den 1. September 1939 zurückdatierte und das folgenden Wortlaut besaß:
»Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.«
Indem das Schreiben auf den Kriegsbeginn datiert wurde, unterstrichen Hitler, Bouhler und Brandt, dass es fortan nicht nur Krieg gegen einen äußeren, sondern auch Krieg gegen einen inneren Feind geben würde: gegen Kranke und Menschen mit Behinderungen. Der rassepolitische und auch kriegswirtschaftliche Aspekt dieses Mordbefehls wurde durch den Begriff des »Gnadentodes« verschleiert, tatsächlich aber ging es um nichts anderes als um die Ermordung von »rasssisch Minderwertigen« oder »Ballastexistenzen«.
Allerdings kam es zu keiner offenen Legalisierung etwa in Form einer im Reichsgesetzblatt publizierten Verordnung oder eines Gesetzes. Quelle

Aufgrund dieses persönlichen Erlasses haben Ärzte und ihre Mithelfer_innen zwischen 1939 und 1945 ungefähr 200000 psychisch kranke Menschen  ( und solche, die man qua Definition krank gemacht hat ) getötet. Sie wurden für „lebensunwert“ erklärt, was es wohl leichter machte, sie zu entwürdigen, zu quälen und zu ermorden.
Es waren nicht einige wenige Täter, sondern die Elite der deutschen Psychiater. Klinikleiter.

Bis 1941 wurden in insgesamt 6 Anstalten ( im Film Hadamar ) ausgewählte Patienten vergast, danach bis 1945 vermehr durch eine Kombination aus drastischer Unterernährung und schleichender Vergiftung z.B. mit Luminal ( Phenobarbital), Skopolamin oder Morphin in den 15 Sonder-Heilanstalten direkt umgebracht.

Wie auch in dem Film gezeigt, konnten sich Mediziner mit Entwicklungen von besonders perfiden Tötungsmethoden einen Namen machen. Sei es die Entwicklung der im Film gezeigten E-Kost ( Entzugskost, Suppe ohne jede Nährwerte) oder wie mit dem durch 3 Ärzte der Heilanstalt Leipzig-Dösen entwickeltem Luminal-Schema.

Das letzte Kind wurde in Kaufbeuren am 29. Mai 1945 , 33  Tage nachdem die Amerikaner die Stadt befreit hatten, getötet. Die Anstalt selbst betraten die Amerikaner erst Ende Juni.

Den Tätern und Täterinnen ist nicht viel passiert. Nachkriegsdeutschland war nachsichtig.

1949 erklärte  Valentin Faltlhauser ( Klinikleiter Kaufbeuren) vor Gericht, er sei als »Staatsdiener dazu erzogen gewesen, den Anordnungen Gefolge zu leisten, also auch den als Gesetz zu betrachtenden Erlass betr. Euthanasie.« Wegen Beihilfe zum Totschlag wurde er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, aber als haftunfähig erklärt. In den 1950er-Jahren bekam er seine zuvor gestrichene Pension vom Innenministerium doch noch bewilligt.

1961 starb der Psychiater in einem Münchner Altersheim. Seine damaligen Schüler wurden nach dem Krieg fast alle Direktoren von Pflegeanstalten. »Nach 1945 gab es in Deutschland in der Psychiatrie keine Zäsur, stattdessen wurde die Geschichte geleugnet und verdrängt.

Wie wäre es uns ergangen?

Der Film ist gut gemacht. Natürlich ist er in gewisser Weise auch fiktiv. Es gibt Szenen, die sind fast schon romantisch. Andere, wie ein nicht dokumentierter Fluchtversuch  oder Miniaufstand im Essensaal sicherlich frei erfunden, schaden aber der Geschichte nicht. Die handelnden Personen sind nicht schwarz-weiß gezeichnet.
Der brutale, tötende Anstaltsleiter ist durchaus freundlich zu seinen Schützlingen, auch die den tödlichen Trank bringende  Schwester eher schön und dumm als kalt und berechnend. Niemand wird geschlagen oder beschimpft. Auch Widerwillen gegen die Tötungen wird gezeigt, in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zwischen Ohnmacht und helfen wollen ( verkörpert durch die pflegende Ordensschwester, die immerhin den Gang zu ihrem Vorgesetzen wagt und – erfolglos – moralische Bedenken anmeldet).
Aber das wissen wir ja: das Böse kann alltäglich sein, es zeigt sich nicht unbedingt als Gesicht eines Monsters.

Der Film überbrückt eine persönliche Distanz, die bei diesem Thema ansonsten vorhanden ist. Wer kann schon sagen: das hätte mir nicht passieren können? Allein in meinem sozialen Umfeld gibt es so viele Menschen, die  nicht im Sinne von voll funktionstauglich, angepasst und wirtschaftlich (aus)nutzbar sind, dass wir eine ganze Station füllen könnten. Für die Nazis hat eine Lernbehinderung schon gereicht, um zu töten. hier
Luminal ist ein Medikament, das einer lieben Freundin seit vielen Jahren ein weitgehend anfallsfreies Leben beschert – damals wäre sie damit getötet worden. Mein familiäres  Umfeld  selbst hätte die Euthanasie-Gesetze in vieler Hinsicht fürchten müssen: Autismus, ADHS, MS , Alkoholismus, Arbeitslosigkeit …. und ich persönlich sicherlich auch wegen meiner nicht so angepassten Art in jungen Jahren.

Aber auch die zeitliche Distanz, die ansonsten da ist, scheint mir mit einem Mal  nicht ganz so sicher zu sein. Ich erinnere gut eine Kita-Bekannte, die  sich nach Geburt ihres behinderten Kindes nicht mehr auf den Spielplatz traute. Aus Scham. „So was muss doch heutzutage nicht mehr sein“- diesen Satz hört man leider viel zu oft. An meine Frauenärztin, die mich verantwortungslos nannte, weil ich keine pränatale Diagnostik machen wollte, wegen 35 plus. An die Diskussionen um die Präimplantationsdiagnostik PID, mit der ermöglicht wird, Geschlecht und Gesundheit des Embryos ausfindig zu machen – und bei Bedarf zu selektieren. Die Sterbehilfedebatte.

Die Nazis haben dem Denken in Kategorien wie: wer darf leben und wer nicht einen pseudowissenschaftlichen Touch gegeben, systematisiert und grausam umgesetzt.

Heute finden wir uns selbst in dieser Verantwortung, weil die Medizin-Technik uns diese Entscheidungen scheinbar leicht ermöglicht.  Eine breite ethische Auseinandersetzung mit dieser Frage und der sich daraus ergebenden Verantwortung findet aber kaum statt.
Das ist es, was mich sprachlos gemacht hat jenseits des schrecklichen Vergangenen, das auf der Leinwand zu sehen war.

Im Anschluss läuft im Kino  “ 24 Wochen“, ein Film, in dem sich ein werdendes Elternpaar mit der Frage auseinandersetzen muss, wie es mit dem Wissen um die Trisomie 21 ihres ungeborenen  Kindes umgehen will und kann.

Bis ich mir diesen Film ansehen kann, brauche ich erst einmal Abstand.
Zu sehr bin ich noch von Ernst Lossa und den für diesen blog  erfolgten Recherchen beeindruckt.

 

Nebel im August,  ein Film  von Kai Wessel und Holger Karsten Schmidt nach dem gleichnamigen Buch von Robert Domes , 9/2016

 

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