Station Orwell VII

Eigenartig ist es mit neuen Erfahrungen.
Sie kommen und man nimmt sie hin, denkt ein wenig drüber nach und hakt sie ab.
Nur manchmal klappt das nicht so Recht, auch wenn es zuerst danach aussieht.

Bei meiner kleinen ‚Reise ins All‘ wollte ich mich darauf konzentrieren, wie ich mich im Wissen um die Totalüberwachung fühle und verhalte.
Und nun erlebe ich, dass mir die Überwachung im Verhältnis zu deren Anlass piep egal ist. Also verdaue ich zunächst das Eine und bin nun erst, drei Tage nach Verlassen der Raumstation in der Lage, ein Fazit zu ziehen.
Was gar nicht so schwer ist :
Für mich macht einen riesigen Unterschied, ob ich die Überwachung bestellt habe und ob sie in meinem persönlichen Interesse ist oder nicht.

Kaum draußen aus der Station entdecke ich eine Kamera an der Häuserwand, auf den Parkplatz gerichtet.
Um den Kühlschrank wieder füllen zu können, nehme ich heute den Weg zur Bank in Kauf, um nicht mit Karte zahlen zu müssen.
Im Einkaufszentrum folgt eine unfreiwilligen Video-Aufnahme der nächsten. Jeder Laden macht sein eigenes Kunden-Casting.
Wie unangenehm.

Nein, ich habe nichts zu verbergen.
Aber ich will auch nicht alles zeigen.
Wie viel Geld ich ausgebe, wo ich einkaufe, parke, Eis esse, Kaffee trinke oder einfach nur rumstehe geht niemanden etwas an.
Wenn ich dann noch die Datenspur dazu rechne, die ich so im Laufe des Tages hinterlasse, und die ich längst nicht mehr übersehen kann, schüttelt es mich.

Was hatte ich es gut in meiner kleiner Orwell ’schen Welt!

Die Tage dort haben mich sensibilisiert, immerhin.
In den Wald ziehen werde ich aber trotzdem nicht.
Sowieso könnte man dort mein Handy orten, oder?

DSC_0307

Ich freue mich über Feedback.Um einen Kommentar zu schreiben, muss man nicht registriert sein.

Station Orwell VI

Gerade hatte mich auf die Umstände hier eingestellt, schon ist das Ende da. Mit meinem kleinen “ niemand-will-was-von-mir-Refugium“ ist es vorbei.
Mehr Gedankenströme werden von mir nicht benötigt, Audi-Video-Überwachung reicht.
Ich genieße den Luxus der heißen Dusche und finde mich danach in der Warteschleife des regulären Stationsalltags wieder. Mein neues Zimmer ist direkt neben meinem persönlichen (verbotenen) Outdoor-Bereich, der Feuertreppe.
IMG_3351
Wenn ich es Recht bedenke, hat mir die Abgeschiedenheit gut gefallen.
Außer einem Routine-Check morgens und abends bestand meine einzige Aufgabe darin, mir mein Essen zu holen. Wozu ich höflich über Lautsprecher gebeten wurde.
Es war klar, dass nicht mehr passiert und so habe ich auf nichts gewartet.

Hier ist es wieder anders. Es ist unklar, ob was passiert oder nicht. Fragen danach werden mit ‚ vielleicht‘ oder ‚ später‘ beantwortet. Sich bereit halten und nicht wissen wofür…

Ich versuche, mir ein wenig von der ‚ ich bin mir selbst genug – Haltung‘ zu bewahren.
Hatte ich mich in den ersten Tagen noch über das nicht funktionierende TV aufgeregt, schaltete ich auf der Iso-Station das einwandfrei funktionierende Ding nur für 1einzige Sendung ein.

Lesen ist nun kein Problem mehr.
Aber noch lieber hänge ich meinen Gedanken nach, höre Musik.
Mein neues Zimmer erlaubt mir eine andere Perspektive auf den schönen Park.
Gewonnene Erkenntnisse aus diesen Tagen rufen nach einer neuen Justierung meines Blicks auf meine Zukunftspläne.

Zeit, all die gewonnenen Eindrücke der letzten Tage sacken zu lassen.
Für ein persönliches Arrangement mit mir selbst.
Zeit, die gut tut.

Ich freue mich über Feedback. Um einen Kommentar zu schreiben, muss man nicht registriert sein.

Station Orwell V

Langsam komme ich mir schon selbst wie eine Beobachterin vor.
Mit Blick auf die inklusive Welt vor meinem Fenster verspeise ich mein Frühstück.
Gymnasiasten eilen in die Schule, Eltern schieben ihre Kids in die Kita oder ins Sozialpädiatrische Zentrum, die Busse der Behindertenwerkstätten trudeln ein, Alte auf dem Weg zum Einkaufsladen, ein Team des Gebäudemanagements, Lieferanten, Radelnde.
Landschaftsgärtner machen ihre erste Pause.
Ein junger Neuzugang mit viel Gepäck.

Das Pflege- und ärztliche Personal dieses ‚Dorfes‘ ist sicher schon eine Weile da.
Wie sonst hätte ich nach nur 3 Stunden Schlaf von dem netten jungen Mann geweckt werden können?
Die Nacht war unfreiwilliger Weise lang.
Annehmlichkeiten wie Kaffe bis Mitternacht, gute Lektüre und viel Musik brachten mich durch die Stunden. Und dennoch kam der Punkt, an dem mir fast die Augen zu fielen.
Nebenan eine junge Frau, der es ähnlich gehen musste.
Unerreichbar.

Hin.
Her.
Wo ist sie jetzt?

Die Kamera folgt mir unerbittlich durch das Zimmer.
Wenn der Sensor mich erfasst hat und das Gerät umschwenkt, bin ich schon wieder in der anderen Ecke.
Aber ich bleibe wach.
Das diensthabende Überwachungsteam kennt nach dieser Nacht meine spezial- Durchhaltesongs, meine Singstimme, weiß, wie ich tanze und wie ich immer wieder bemüht bin, diese motorische Unruhe in den Griff zu kriegen.
Was ich nicht zeigen mag: mein Gesicht beim Tanzen, beim Denken, beim Trauern um die Lieben, die dieses Jahr gegangen sind.

Wenn dir Melodien
Liebe Stunden wiederbringen,
Laß mit freienSchwingen
Deine Sehnsucht ziehn.

Nimm das Glück wie einst,
Daß dir Träume gütig spinnen,
Laß die Tränen rinnen,
Wenn du weinst.

( J. Ringelnatz, Schöne Musik )

Gedanken kommen und gehen.
Einige immer wieder.
Ich heiße sie willkommen.
Es ist nicht die Zeit, konstruktiv zu sein, etwas zu schreiben z.B.
Dafür muss mein Gehirn frisch sein, jeder Tag ein neues Blatt.

So schwer es mir fällt, ohne Bewegung auszukommen, so erholsam sind die Tage dieses Stillstandes dennoch.
War ich doch schon wieder viel zu oft auf der Überholspur.
Das Wenige, mit dem ich hier umgeben bin, reicht.
Die viele Zeit nur für mich tut gut.

So einen Zwangsstop bräuchte ich öfter.
Wenn ich heiß gelaufen bin, oder besser : vorher.
Wie organisieren sich das Menschen ohne Wochenendhaus, Wellness-Weekend, mit familiärer Verantwortung und beruflicher Belastung?
Menschen die es reizt, an ihre Grenzen zu gehen aber mit der Tendenz, nicht zu spüren, wann es genug ist ?

Bei allen Einschränkungen: dieses aus-der-Welt- sein, es möge noch etwas andauern.
IMG_3347

Station Orwell IV

Was ist heute für ein Tag?
Noch schneller als im Urlaub verliere ich das Zeitgefühl.
Körperlich ausgeruht, springen meine Gedanken umso mehr.
Ich könnte mal dies, würde gern das……
Alles graue Theorie zur Zeit.
Schon jetzt bedaure ich, dass ich niemals all diese tollen gedanklichen Projekte auch nur beginnen werde.

Für meine Raumstation habe ich wunderbare Verbesserungsvorschläge, die bestimmt keiner hören will, ich werde sie hoffentlich für mich behalten.
Diese einmalige Station im Bundesgebiet ist noch nicht einmal ausgebucht.
Nicht wg. mangelnder Nachfrage, sondern aufgrund von Personalmangel.

Draußen reges Treiben.
Schulkinder gehen über das Gelände.
Krankentransporte, Lieferwagen.

Innerlich bin ich heute ruhiger.
Max Hölz, Rosa Luxemburg, Emma Goldmann, Nelson Mandela, Angela Davis, Ulrike Meinhof……Menschen, bei denen ich mich seit meiner Jugend frage, wie sie die Isolation unter 1000 x schlechteren Bedingungen als ich sie jetzt hier habe, ausgehalten haben.
Ich ahne ganz entfernt, welche Kraft Überzeugung hat.
Welche Haftungserleichterung Papier und Schreibgerät sind.

Mir fällt es allein schon schwer, hier ein wenig Gymnastik zu machen.
Ist es doch das Wenigste, das ich in dieser Iso-Situation für mein gutes Körpergefühl tun kann.
Selbst-Disziplin.

Was täte ich ohne web 2.0. und ohne Musik aus der Konserve?

Immerhin: Bluesharp konnte ich hier gestern ( leise ) spielen.
Ich möchte meine Gitarre haben….seufz.

Rocketman – timeless flight – Sittin‘ On The Docks Of The Bay – watchin‘ the tide- wastin‘ time…. Every breath you take – and every move you make – every bond you break – every step you take – I’ll be watching you…..

Einige meiner Lieblingssongs strömen heute morgen durch meine Kehle.
Ich denke mir nichts dabei, dass jemand zuhört.
Gut, dass ich ein Einzelzimmer habe.

Mit dem Sport ist es schon schwieriger.
Die Verkabelung schränkt meine Bewegungsmöglichkeit ein.
1,80 m Radius lassen zwar ein wenig Auslauf zu.
Aber Drehungen können zu Fallstricken werden.
Der umgehängte Brainbox verheddert sich mit mir und dem Kabel.
Und was ist mit den Erschütterungen beim Springen?
Na ja, die werden schon kommen und meckern, wenn ich zu weit gehe.

Auch hier eine vorsichtige Ahnung, was Bewegungseinschränkung für mich bedeuten würde.
Duschen ohne die Elektroden nass zu machen erfordert eine genaue Handlungsplanung. Sich anziehen in verkabeltem Zustand ist kompliziertes Getüddel.
Räumliches Vorstellungsvermögen ist gefragt.

So konzentriert /fokussiert ich in Stresssituationen auch handeln kann – im Ruhezustand bin ich extrem zerstreut und hier sogar vertüddelig :

image

So what?
Bewegung, Musik, Kommunikation …. mein Lebenselixier.
Was auch immer letztlich hierbei herauskommt, ich werde am Ende einiges Neues über mich erfahren haben.

Ich freue mich über Feedback. Um einen Kommentar zu schreiben, muss man nicht registriert sein.

Station Orwell III

Nun ist es soweit.
Das total-Monitoring hat begonnen.

Ich habe ein schönes großes Zimmer für mich alleine.
Weiße, blanke Wände.
Ein riesiges Fenster beschert mit den Blick in einen Park. Heute ist es windig, viele Parkbesucher nehmen Kastanien auf.
Herbstzeit.

Ah…da bist du!

Kontakt zu den Menschen im Überwachungsraum erfolgt über Lautsprecher.
Wenn ich meinen Standort im Zimmer verändere, folgt mit die Kamera mit einem leisen Brummton.
Gerade eben bekomme ich aus dem ‚Off‘ die Aufforderung, mich auf der anderen Seite des Zimmers aufzuhalten, damit die Kamera mich erfassen kann.
Noch nie war ich so abgeschnitten von der Welt und doch so angekettet.

IMG_3345

Ich darf 20 min. tägl. das Zimmer verlassen.
Noch genieße ich die Ruhe…..aber mir graut vor der Isolation der nächsten Tage.

Ich möchte lesen, wenn ich Lust dazu habe, nicht weil ich jetzt Zeit ohne Ende habe.
Die Bewegungs- und Beschäftigungslosigkeit macht mich lustlos.
Meine ( relative, persönliche) Autonomie abzugeben ist mit zuwider.
Ich muss mich fügen.
Kann nichts beschleunigen.
Das bereitet mir mehr Pein als die Gewissheit, beim in-der-Nase-Bohren beobachtet zu werden.
Fast schon wünsche ich mir ein paar Belastungstests, nur damit etwas passiert.

Ich wollte das hier als Entspannungs-‚urlaub‘ nehmen.
Im Park ist schon lange niemand mehr.
Wie ein Mobilphone, das ein Netz sucht, fühle ich mich.

Können sich ADHSler in so anregunsarmer Umgebung entspannen?
Ich auf jeden Fall nicht.

Ich freue mich über Feedback. Um einen Kommentar zu schreiben, muss man nicht registriert sein

Station Orwell II

Das Bewusstsein darüber, dass jedes Wort und jede Bewegung aufgezeichnet wird, bringt ab und an einen Stopper in mein Denken und Tun.
Ups-schaut vielleicht gerade jetzt jemand auf den Monitor, wenn ich hier so hin und her tigere ?
Blicken die Beobachter auf, wenn meine Musik plötzlich ertönt?
Wird registriert, dass ich heute besonders schusselig bin, und wenn ja, wie wird es gedeutet?

Ich versuche, es auszublenden, was nicht so richtig gelingt.
Nur gut, dass ich eh‘ schon rumgewettert habe als mir gar nicht klar war, dass Audio/ Video schon läuft.
Jetzt brauch‘ ich auch kein Blatt mehr vor den Mund nehmen.

Was heute nur Big Brother ist, wird morgen erweitert um Aufzeichnung der Gehirnaktivitäten.
Ich hätte da schon prima Ideen, was alles gemessen werden könnte:
Wie reagiere ich auf Heavy Metal, wie auf Klasssik?
Oder was passiert, wenn ich mir Musik nur vorstelle?
Mich ärgere oder freue?
Ein Eis esse, ein aufregendes Buch lese?
Aber das sind wohl nicht die Dinge, die hier von Bedeutung sind.

Heute Abend aber genieße ich die verbleibende Zeit, in der mein Gehirn ticken kann wie es will, ohne von Dritten bewertet zu werden 🙂

ich freue mich über Feedback. Um einen Kommentar zu schreiben, muss man nicht registriert werden.

Station Orwell I

Eigentlich wollte ich ja darüber schreiben, wie ich mich so fühle, wenn ich mich bewußt einer rund-um-Überwachung aussetze.
Wenn jeden Moment klar ist, dass meine Bewegungen gefilmt werden und meine Gehirnaktivität gemessen wird.
Ob es einen Unterschied gibt zur alltäglichen Überwachung, von der ich weiß, sie aber meist nicht merke.

Aber nun kann ich erst einmal nur darüber schreiben, wie es sich anfühlt, mit einer ADHS Disposition zum Warten, zum Rumsitzen, zum Geschehen lassen verdonnert zu sein. Und das alles, ohne sich irgendwie passiver als sonst zu fühlen.
Ich habe die besten Vorsätze, diesmal eine geduldige und verständige Patientin zu sein.
Und bekomme sogleich Gelegenheit, dies unter Beweis zu stellen:
Die Totalüberwachung beginnt nämlich nicht sofort, sondern es liegen zunächst einige Standard-Untersuchungen an, die auch vorab ambulant möglich gewesen wären.
Dafür läuft die Audio-Video Überwachung des Zimmers von Beginn an. Was ich bis eben nicht wusste, weil ich meine Aufmerksamkeit nicht den Beschilderungen an der Tür, sondern den Dingen, die nicht nach meinem Geschmack laufen, widmete.

Ich komme also mit der Erwartung her, dass man sofort mit der eigentlichen speziellen Untersuchung startet. Dass alles rucki-zucki durchgeführt wird ….und bleibe im zähen Stations-Alltags-Rhytmus stecken.
Horrorgeschichten über die nonstop-Audio-Video-EEG-Station anderer Patienten runden das Bild ab.

Die technischen Möglichkeiten sind hier wie in keiner anderen Klinik im Bundesgebiet. Die Begehrlichkeiten des Oberarztes bezüglich der Untersuchungsvielfalt entsprechend.

Nun habe ich schon enttäuscht: nein, ich will nicht um jeden Preis eine mega super detaillierte Diagnose.
Ich muss auch nicht unbedingt grundsätzlich bewährte Behandlungsmethoden verändern.
Mir reicht die Erhaltung meiner jetzigen Lebensqualität.
Der Arzt hat es nicht leicht mit meinen ‚ ja, abers ‚ .

Dann sind da noch : ein TV, das drei Schneesender hat : schwarz-weiß, bunt und dunkel. Und 2 mit Dauer-Reality-Doku-Soaps.
Ein Aufenthaltsbereich im Freien, der dem Inneren eines Aschenbechers gleicht.
Internet nur sporadisch und nicht überall.

Mein Ort für frische Luft und Internet: die Feuertreppe

Der Aufprall gestern hier war hart. Von Arbeitstempo 150 auf 0 mit gelegentlichem Stop and go.
Desillusion und Verärgerung.
Eine eher nicht stimulierende Umgebung: kein einziges Bild ziert die Wände dieser Station.
Die prickelnde Aussicht, Langeweile u.a. mit Entspannungsübungen bekämpfen zu müssen.
Ich bete, dass mir Seidenmalerei erspart bleibt und Teddys nähen möchte auch nicht.

Selbstverständlich habe ich 10 Bücher dabei.
Kurz vorm emotionalen Vulkanausbruch eignen die sich aber weniger zum Gelesen werden, denn zu Wurfgeschossen. Aber mittlerweile bin ich aus diesem Alter schon raus und veranstalte solche Zweckentfremdungs – Events nur noch mental.

Was für ein Kontroll- und Geduldstraining!

Ich freue mich über Feedback. Um einen Kommentar zu schreiben, muss man nicht registriert sein.