Überraschend anders….

…Mädchen und Frauen mit Asperger

Ein Buch von Dr. Christine Preißmann.
Gerade erschienen im Trias-Verlag.

Es ist nicht mein erstes Buch zum Thema.
Um es gleich vorweg zu nehmen: es ist das Beste, dass ich je zum Thema gelesen habe.

Tony Attwood beschrieb bereits in diesem Artikel, dass bei Mädchen in Hinblick auf Asperger etwas anders geschaut werden muss als bei Jungen und der bezweifelt, dass Jungen so krass überproportional betroffen sind, wie immer behauptet wird. Er geht vielmehr davon aus, dass sich die autistischen Besonderheiten bei Mädchen u. a. sozialisationsbedingt anders äußern als bei Jungen.
Ihre Spezialinterssen sind häufig weniger ausgefallen als die der Jungen, aber die Intensität und Qualität übersteigt die ihrer Alterskameradinnen um vieles. Auch ist die soziale Kompetenz meist besser entwickelt- geschuldet dem entsprechenden Erwartungsdruck der Gesellschaft auf das weibliche Geschlecht.

Obwohl mittlerweile bekannt ist, dass Frauen häufig körperlich und psychisch andere Symptome entwickeln als Männer, wird dies bei der Diagnostik nur wenig berücksichtigt (1) und viele Mediziner und Therapeuten ignorieren diese Tatsache weiterhin.
So orientieren sich die Diagnosekriterien des ICD-10 auch heute noch an den männlichen Symptomen und deshalb erhalten viele betroffene Mädchen nicht die Diagnose Asperger, sondern alles Mögliche andere: Sozialphobie , Zwangsstörung, Depression, sehr häufig ADHS oder oppositionelle Charakterzuordnungen – der reinste Gemischtwarenladen fehldiagnostizierter psychischer Krankheiten. (2)

Um so begrüßenswerter ist dieses Buch.
Angenehm, ein deutschsprachiges Buch in den Händen zu halten. Nicht selbstverständlich.
Hilfreich vom Alltag in Deuschland mit dreigliedrigem Schulsystem, hiesigem Ausbildungs- und Gesundheitswesen zu lesen.
Was die Bewertung der Symptome angeht, ist unsere westeuropäischen Kulturprägung Maßstab.
Ausnahmsweise einmal sinnvoll, diese Begrenzung, denn so hilft es den hier geprägten Mädchen und Frauen am meisten.

Hier werden nicht die Diagnosekriterien rauf und runter analysiert.
Es kommen betroffene Erwachsene ebenso zu Wort wie Mütter von betroffenen Mädchen.

Das An-Erkennen der autistischen Besonderheit, die sich anders äußert als bei Jungen, deren Akzeptanz durch Familie und Umfeld, das Bestehen im Alltag stehen im absoluten Vordergrund.

Die Autorin ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie und selbst Autistin.
Sie ist nicht nur eine Fachfrau, sondern kann aus eigenem Erleben berichten.
Sehr anschaulich, wenn es um ihre Probleme in ihrer Kindheit und Jugend, in ihrer Ausbildung und im Arbeitsallltag geht.

Im Abschnitt über die Schulzeit wird schnell klar, wie autistische Mädchen sich anstrengen, nicht aufzufallen, eher überangepasst sind. Autistische Mädchen können ihre Besonderheiten besser tarnen als Jungen. Einerseits hilfreich- andererseits Dauerstress pur.
Hier sind die Lehrer gefordert, genau hinzusehen und die erforderliche Unterstützung zu geben.

Mütter ebenso wie erwachsene Betroffene schildern, wie sich die Probleme während der Pubertät in dem Maße verstärken, wie die sozialen Anforderungen an die jungen Frauen steigen.
Tiefe Einsamkeit– dadurch zeichnet sich für fast alle Mädchen die Pubertät aus. Die Entfernung zu Gleichaltrigen nimmt zu.
Es ist zu lesen von sich selbst für ihr „Anders-sein“ bestrafenden Mädchen und von hilflosen Müttern, denen es das Herz bricht, ihr Kind so einsam zu sehen und kaum helfen zu können.

Von der Diskrepanz, das weibliche Schönheitsideal vor Augen zu haben, zu sehen, wie es anderen Mädchen und Frauen nicht nur Stress, sondern auch Freude bringt, sich chic zu machen – und selbst überhaupt keine Lust, oft noch nicht einmal eine Ahnung davon zu haben, wozu das gut sein soll.
Von der unterschiedlichen Bewertung der Verweigerung von Konventionen durch Mädchen/Frauen oder Jungen/Männer.
Der Schwierigkeit, zwar beruflich auf Kongressen unterwegs sein zu können, aber im Schwimmbad die Orientierung zu verlieren. Dem Unverständnis der Umwelt.

Das Thema Partnerschaft und Sexualität.
Allein der Frauenkörper erfordert mehr Flexibilität im Umgang mit sich selbst, als Männer sich vorstellen können. Ein Hort der Verunsicherung für jede junge Frau – erst Recht aber wenn sie Autistin ist. Die meist extrem sensorische Empfindsamkeit ist dabei eine zusãtzliche Last.

Betroffene Männer finden oftmals eine Frau, die sich gerne kümmert, die sozialen Kontakte pflegt und vieles mehr. Erwachsene Autistinnen sind da mehr auf sich gestellt. Der Typ “ zerstreuter Professor“ ist als Rollenmodell für Frauen nicht vorgesehen und löst bei Männern eher selten einen Beschützerinstinkt aus.

Das Thema Kinderwunsch/ Familie bleibt selbstverständlich nicht außen vor.
Da viele Frauen erst sehr spät ihre Diagnose erhalten, gibt es bis jetzt wenig offizielle Hilfsangebote für autistische Mütter. Eine Familie stellt nicht gerade geringe Ansprüche an Flexibilität, soziale Kompetenz, Multitasking und sensorische Belastbarkeit.
Dinge, die auch Nicht-Autistinnen belasten und ohne Unterstützung kaum zu schaffen sind.
Hier die klare Aufforderung an Betroffene, sich darüber Gedanken zu machen, welches Lebensmodell zu ihr passt. Unter Berücksichtigung eigener Möglichkeiten und Vorlieben.
Kein Ratgeber im Sinne von: Autistinnen sollten lieber so oder anders leben.

Das Leben einer Asperger-Autistin in einer Welt von Nicht-Autisten ist brutal anstrengend.(3)
Frauen mit Autismus sind einem höheren Risiko für Depressionen ausgesetzt als betroffene Männer. Sie haben oft ein stärkeres Bewußtsein für soziale Schwierigkeiten, die sie erleben, und die lebenspraktischen Konsequenzen. Sie sind auch einem größeren gesellschaftlichen Druck ausgesetzt. (4)

Bei allem ist das Buch dennoch positiv.
Es enthält viele Beispiele gelungener Problemlösestrategien, oft erfolgreich aufgrund besonderer Fähigkeiten, derer sich die Betroffenen häufig lange nicht bewußt sind.
Jedes Kapitel schließt mit hilfreichen Tipps zur eigenen Alltagsbewältigung bzw. Unterstützung durch Lehrer, Eltern, Freunde etc. ab.

Wie kann ich entspannen?
Wie finde ich die richtige berufliche Nische, wie will ich leben?

Berichte über positive Erfahrungen mit Selbsthilfe-und Therapiegruppen für Mädchen und Frauen- die es leider viel zu wenig gibt, runden das Bild ab.

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Nicht 1 Mal wird das Wort “ Störung“ benutzt, womit sich das Buch wohltuend von anderen Publikationen abhebt. Wohl wird von “ Behinderung“ gesprochen, jedoch weniger im Sinne von Krankheit denn von in der Person und Umwelt bedingten Hindernissen, auf deren Größe durchaus Einfluss genommen werden kann.

Immer wieder wird deutlich, wie wichtig es für die Mädchen und Frauen ist, ihren eigenen Lebensweg zu finden, der nicht selten ungewöhnlich ist.
Und dann in seiner Befolgung Unterstützung durch Eltern und andere Bezugspersonen zu erhalten.

Ein Buch, mit dem das Verständnis der weiblichen Ausprägung von Asperger erheblich erhöht wird-wenn es denn gelesen wird von Eltern, Lehrern, Ärzten, Therapeuten, Selbsthilfegruppen und nicht zuletzt von den Betroffenen selbst.

(1) Dieser generell fehlende Genderblick im medizinischen Bereich kann dann schon mal Frauen das Leben kosten – wenn z.B. ein Herzinfarkt nicht als solcher erkannt wird, um ein extremes Beispiel zu nehmen.. hier
(2) S.157
(3) S. 145
(4) S. 111

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