Ein Kreis ist ein Kreis

Interessante Menschen.
Irgendwie gradlinig, konsequent.
Wenig beirrbar durch Konventionen und Erwartungen Dritter, so scheint es.
Ausgestattet mit einer guten Firewall gegen Fremdbestimmung.
Charakterköpfe, wie man so schön sagt.
Beeindruckend.

Lesen wir vielleicht deshalb gerne über sie?
Finden sie deshalb zunehmend erfolgreich Eingang in die Welt der Literatur und des Films?
Im Gegensatz zu ADHS wird eine autistische Disposition neuerdings zuweilen durchaus positiv dargestellt. Zumindest wenn sie „hochfunktional“ ist. (1)
Das finde ich gut.
Nicht gut, dass z.B. ADHS noch immer in der Schmuddelecke verharrt, da gehört überhaupt keine vom neurotypischen Wahrnehmen und Empfinden abweichende Disposition hin.

Das, was wir an ADHSlern sehen, ist eher das, worunter wir mehr oder weniger selbst leiden.
Immer mehr Reize stürmen von allen Seiten auf uns ein und machen uns kirre.
Konzentration ist anstrengend.
Es fällt uns immer schwerer, in der Vielfalt der täglichen Angebote unserer Konsumgesellschaft Entscheidungen zu fällen.
Der Leistungsfächer ist so breit, dass wir kaum noch wissen, welchen Anforderungen wir zuerst nachkommen sollen.
Wir haben eine moderne Lebensweise bei gleichzeitig nicht mehr zeitgemäßen oder kaum erfüllbaren Konventionen.
Täglich üben wir uns in der Quadratur des Kreises.

Gerne erinnere ich mich zurück an vergangene Einkaufsbummel mit einem ehemaligen Partner.
Selbst ein Handwerksmeister, aber tätig in einem der renommiertesten Juweliergeschäfte vor Ort. Von Zeit zu Zeit kleidete er sich neu ein. Eine Rolex verkauft man nicht im Arbeitskittel.
Er liebte es, zu diesem Zweck einen Herrenaustatter aufzusuchen. Ich begleitete ihn gerne und nicht ohne Neid. Dort gab es alles: von der Socke, Unterwäsche, Oberbekleidung für Beruf und Freizeit, Schuhe und Kopfbedeckung bis zu Manschettenknöpfen. Das Angebot war angenehm begrenzt.

Freundliche FachverkäuferInnen nahmen sich seiner an.
Ein klarer Auftrag seinerseits: ich brauche für den Anlass X die entsprechende Garderobe.
Eine systematische Abarbeitung des Auftrags andererseits.
Alles in ruhiger und ungestörter Atmosphäre.
Der Kunde musste nicht durch diverse Abteilungen streunen und jedes Mal sein Verslein aufsagen, das Verkaufspersonal hatte die Möglichkeit, sich auf einen Kunden zu konzentrieren und wirklich seine Fachkenntisse gezielt an den Mann zu bringen.
Ich habe dabei gerne zugeschaut und ab und an durfte ich mein laienhaftes Urteil abgeben.

Einen solchen Ort habe ich lange nicht erlebt. Weder in die Arbeitswelt noch in der Freizeit.

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Multitasking.
Alles und jeder wird bedient. Gleichzeitig.
Natürlich leidet die Qualität.
Keine Zeit für Hingabe.
Dazu bräuchte man einen sicheren Schutz gegen die ständigen Unterbrechungen.
Wir sind darauf getrimmt, allen Anforderungen gerecht werden zu wollen, alle Begehrlichkeiten, die von außen an uns herangetragen werden, zu bedienen.
Besonders am Arbeitsplatz. Unser Sicherheitslevel dort ist allenfalls medium – alles andere könnte als Faulheit, Sturheit, mangelndes Engagement und Desinteresse gewertet werden.
Kleine gut geölte Rädchen im großen Getriebe.

Wer schon einmal einem Menschen mit autistischer Disposition zugeschaut hat, wie er ganz und gar in seinem Spezialinteresse aufgeht und die oftmals beachtlichen Leistungen, die daraus resultieren sieht, denkt sich vielleicht:

boah – das würde ich auch gerne mal schaffen.

Einfach das machen, was ich wichtig und interessant finde. Bis ICH damit zufrieden bin. Egal, was Hans, Franz und sonst wer gerade wollen oder darüber denken.
Firewall high level on.
Zweifellos eine der positiven Seiten des Autismus.
Die andere Seite: es geht meist nicht anders und der Preis dafür in unserer Gesellschaft ist verdammt hoch.
Letzteres jedoch könnte durchaus anders sein.
Wir hätten alle etwas davon.

(1) was für eine blöde Bezeichnung ist das eigentlich?

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