Unbekannter Lehrplan…

…oder die Crux mit der Inklusion

in der ZEIT ONLINE ist kürzlich ein langer Artikel zum Thema Inklusion erschienen. Dorit Kowitz hat sich in “ Wie viel anders ist normal? „ die Mühe gemacht, einmal genauer hinzuschauen. Auf die unterschiedlichen Kinder mit ihren entsprechenden Bedürfnissen und Bedarfen. Auf die Lehrerschaft, die Finanzen und die Politik. Darauf, was viele erträumen und das, was Realität ist.

Allein das scheint schon Grund genug, diesen Artikel gut zu finden und zu teilen….in FB, in Elterninis usw. Nimmt sich ja auch positiv zwischen dem vielen dummen Geschreibe und oft auch Gehetze zum Thema aus.
Dennoch: es fehlt was, bleibt ein schaler Geschmack.
Nur ein Zustandsbericht, noch nicht einmal ein realistischer.

Ich weiß von Kindern, die jahrelang gar nicht mehr zur Schule gehen. Nicht möglich bei uns? Oh doch. Keine Schule nimmt sie. Das geht nicht? Aber sicher. Dazugehörige Eltern, meist Mütter, die nicht mehr arbeiten gehen, weil jemand zu Hause sein muss. Handelt es sich um Schwerstbehinderte? Weit gefehlt, oft sogar sehr talentiert, manchmal hochbegabt (mag ich gar nicht, diesen Testauswertungsbegriff), aber zu sensibel, um z.B. den Krach in einer Klasse aushalten zu können. Die Sinne so geschärft, dass es nicht geht und zu Abwehrreaktionen führt.
Alarmstufe rot – fast den ganzen Tag. Weil der Rahmen nicht stimmt. Oft Autismus genannt.

Die Eltern froh, wenn diese Kinder dann auf der Sehbehindertenschule genommen werden. Da ist andere Wahrnehmung nicht ungewöhnlich und die Schullaufbahn endet nicht zwangsläufig mit Förderabschluss.
Die Verzweiflung der Eltern ist ebenfalls nicht weit: ausgesondert ist nicht nur ihr Kind, sondern auch sie. Eine eigene Welt für die ganze Familie. Auch in der Sehbehindertengemeinschaft haben sie nur Gaststatus, wenn überhaupt.

Mir sind Kinder bekannt, denen sieht man gar nichts an. Deren Eltern jahrelang hinter einer Diagnose her rennen, um nur ein wenig Anspruch auf Rücksichtnahme für ihr Kind in der Schule zu bekommen. Mit viel Förderung, Verständnis und manchmal Medikamenten schaffen diese Kinder es, ihre Handicaps so gut zu kompensieren, dass sie keiner merkt, sie nur manchmal „komisch“ wirken. Das kostet ungeheure Kraft, die des Kindes und der Eltern. Auf Dauer nicht zu leisten. Depressionen und andere psychische Erkrankungen winken. Was prägt ist der Abdruck auf der Seele von Eltern und Kind, nicht gesehen und verstanden zu werden, nichts richtig zu machen. Sonderstempel für Erziehende: das Kind nicht zum Erfolg zu führen, versagen.

Körperbehinderte, die Schulen besuchen, in denen sie weit unter ihren intellektuellen Möglichkeiten gehalten werden. Mit der Perspektive, in einer Werkstatt zu arbeiten. Ausbruch wird mit endlosen Anfahrtswegen bestraft oder wenn man ganz hartnäckig ist, mit Gerichtsverfahren um den Platz in der gewünschten Schule, um das persönliche Budget, um persönliche Assistenz.

Schwer erkrankte Kinder, die im Krankenhaus gerade mal 2 Stunden Schule bekommen, über lange Zeit. Welchen Abschluss werden sie einmal machen, wenn sie nicht sterben, sondern mit einer chronischen Krankheit werden leben müssen?

Selbst gesunde Kinder aus fremden Ländern sind für unsere Schulen oft nicht normal genug, um einen guten Abschluss zu bekommen.

Das Risiko für alle diese Menschlein: nicht in der Familie aufwachsen können, wenn eine angemessene Schulbildung realisiert wird.

Fast alle finden „Beste Freunde“ toll.
Ein Film, der erfolgreich im Kino lief, in keinem guten Heimkino fehlt.
Das ist es, was wir wünschen.
Akzeptanz statt Mitleid.

Die Idee der Inklusion ist eine gemeinsame Lern-und Lebenswelt für alle.
Das braucht Geld, viel, viel Geld. Und unseren Enthusiasmus und beinharten Willen, es zu schaffen.
Ohne wird es nicht gehen, das Brett, das zu bohren ist, ist zu dick.

Mut für neue Wege.
Es ist nicht richtig, von Menschen mit besonderen Bedarfen, die oft von der Sparversion der pädagogischen Betreuung, der auch nicht behinderte Menschen ausgesetzt sind, erheblich mehr benötigen, zu verlangen, dass sie es nur mit einem bisschen mehr schaffen.
Schließlich leisten sie auch nicht nur ein bisschen mehr.
Neben dem regulären Schulstoff muss jedes Kind auch die eigene körperlich-geistige-emotionale Entwicklung meistern. Gute Schulen versuchen, dem gerecht zu werden. Unser Schulsystem insgesamt nicht.

Kinder mit Integrationsbedarf, sei er gesundheitlich oder sozial begründet, haben einen viel umfassenderen Lehrplan. Die meisten Lehrer erahnen das Ausmaß dessen nicht einmal. Was andere im Vorbeigehen mit lernen, wird oft mühsam geübt. Auch sogenannte „Kleinigkeiten“.

….you’re goin‘ blind, you ain’t stupid!

Ein Lehrer, der sagt: „das muss in diesem Alter jetzt aber mal klappen“ gehört in eine Schulung, mindestens.
Diese Kids besuchen Therapien, müssen im Alltag klar kommen, Hilfsmittel – technische, soziale oder sogar eigene innere – benutzen lernen, um unsere Kulturtechniken beherrschen zu können.
Oft müssen sie erst einmal heraus finden, was sie in welcher Weise überhaupt brauchen und wie es ihnen helfen kann. Mit dem Lesen von Testberichten, ärztlichen, pädagogischen und freundschaftlichen Ratschlägen ist es nicht getan. Die Maßnahme, die für den einen gut ist, muss dem anderen nicht helfen. Ausprobieren, viele Male, viele Dinge.
Muss ich noch sagen, was das für die Eltern bedeutet?

Bedenkt doch endlich mal: auch dieses Lernen braucht Zeit!

Zeit, die keine aktuelle Schulform diesen Kindern bietet. In der Regelschule 9, 10, 12 oder 13 Schuljahre.
Die Förderschulen sind da flexibler, aber dafür gibt es meist keine höheren Abschlüsse. Wer da mit dem Hauptschulabschluss raus kommt, auch wenn es nach der 12. Klasse ist, ist ein Champion. Eine Alternative? Wohl kaum.

Inklusion heute leben heißt:
so tun, als würde es diesen erweiterten persönlichen Lehrplan nicht geben und in gleicher Zeit ein Vielfaches als die Klassenkameraden leisten, allerdings ohne den netten Zusatz im Zeugnis:

XY hat immer alle Zusatzaufgaben zuverlässig erledigt.

Und, wenn die Behinderung offensichtlich ist: nicht in der Masse abtauchen können, wie man das als Schüler gerne tut und zuweilen braucht. Präsentierteller.

Wer macht sich eigentlich darüber Gedanken?
Und darf man auch mal denken, dass es vielen „normalen“ Kindern auch gut täte, mehr Zeit zum Sich-Entwickeln zu bekommen? Ich sage da nur Pubertät, aber es gibt noch vieles mehr.
Es ist müßig, über individuelles Lernen, Integration und Inklusion zu reden, wenn nicht endlich einmal über die dafür vorhandene bzw. benötigte Zeit gesprochen wird. Wer sagt, jedes Kind hat sein eigenes Lerntempo aber am Tag X muss es dies und das und jenes definitiv können sonst – „Tschüs “ – der ist bei bei diesem Thema nicht ernst zu nehmen. Was, außer Geld , spricht gegen einen Hauptschulabschluss nach der 12. Klasse, ein Abitur nach der 15. – wenn es denn die individuelle Entwicklung erfordert?
Oder: muss es immer der heute standardisierte formale Schulabschluss sein, der den Zugang zu qualifizierten Berufen ermöglicht? Unbeschadet der persönlichen Eignung?
Empathielose Ärzte, talentfreie Journalisten, weltfremde Richter…das alles darf sein. Aber ein Diplom ohne stundenlanges Zeit-Absitzen in der Uni und niemanden interessierende Abschlussarbeit? Ein begnadeter Instrumentenbauer ohne Hauptschulabschluss? Dolmetscher ohne Matheprüfung? Darf man überhaupt etwas sein, wenn man in Prüfungen blockiert ist?
Wofür oder besser: wonach wird man später bezahlt….für das bloße geduldige Ausharren in unseren Bildungsinstitutionen mit Finale?
O.k. , so ein paar kleine Sonderwege à la “ Studium ohne Abitur “ haben wir ja. Nichts Weltbewegendes…..darauf kann man sich nicht ausruhen.

Unsere Gesellschaft denkt in die andere Richtung: mit 5 rein in die Schule, nach möglichst wenig Schuljahren wieder raus, schnelle kurze Ausbildungen und dann rein ins Arbeitsleben (haha). Arbeiten bis ins hohe Alter (haha) oder Frühverrentung mit Mitte 30 ( zu oft: jaja).
Für alles braucht man einen Zentral-Abschluss, Zentral-Abi, Zentral – Certifikat, Zentral- pi-pa-po.
Wegen der Vergleichbarkeit….Pech für die Unvergleichlichen.
Dafür ist Geld da.

Und weil ich ja immer so gerne vom Hölzchen auf’s Stöckchen komme:
in meiner Schulzeit war weder von Integration noch Inklusion die Rede. Trotzdem hatten wir eine Mitschülerin in der Oberstufe, die wegen ihrer Spastik auf den Rollstuhl angewiesen war. Sie musste sich böse Sprüche von manchen Lehrern anhören, so im Bio-Leistungskurs. Genetik: Frauen sind noch dümmer als Nigger als Behinderte . Da gab es aber Stimmung, meine Güte!

Wir Schüler hatten keinerlei Probleme mit ihr, außer die üblichen, die man so untereinander hat als junger Mensch. Die Sache mit dem Rollstuhl haben wir locker gehändelt. Fast alles konnte sie selbst und wenn nicht, haben wir geholfen. Berührungsängste gab es nicht. In unserer Familie wurde ein alter Mensch gepflegt, da kannte man so Einiges. In anderen Familien gab es das auch. Ob die heutige Abwesenheit von Gebrechlichkeit in den Familien eine Rolle in der aufgeregten Diskussion um das Miteinander spielt, besonders bei besorgten Eltern der angeblich sich in allen Bereichen schnell entwickelnden Kinder? Angst essen Seele auf?

Absolut cool war: unsere Mitschülerin war älter als wir und wohnte schon alleine. Herrliche Freistunden!
Allein im Badezimmer konnte man zu acht sitzen und gemütlich chillen und so, um den nächsten Kurs zu überleben 😉

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