Augenwischerei*

Ob bei Teamentwicklungen, Weiterbildungsmaßnahmen,  Mutter-Kind-Kuren,  beruflichen Reha-Maßnahmen oder Therapien- überall kann einem die Aufforderung begegnen: schreiben sie einen Brief an sich selbst. Das kann zu Beginn der Veranstaltung sein oder aber erst am Ende. Wichtig ist, dass der Brief einen erst zum gesetzten Zieldatum ( Prüfung, Ende der Maßnahme, einige Zeit wieder im häuslichen Alltag etc.) erreicht.

Die Aufgabe

Schreiben sie ihre Ziele auf.
Was wollen Sie am Tag X erreicht haben?
Was wollen Sie verändern?

Meist hat man ca. 1 Stunde Zeit dafür. Das ist nicht viel, wenn man ein herausforderndes Ziel hat und außerdem sind wir ja auch ungeübt, nur für uns selbst unsere Ziele zu benennen. Also denkt man nach und schreibt dann was. Meist so eine Mischung aus offiziellem Ziel der Veranstaltung ( Abschluss schaffen,  im Fach x verbessern, gelassener sein, sich für sich selbst Zeit nehmen, Sport anfangen, gesund ernähren, vor  Gruppen sprechen können, weniger Überstunden machen, mal NEIN sagen im Job usw.) und dem, was man sich wirklich wünscht und so zutraut. Schulkinder jüngeren Datums und deren Eltern kennen diese Mogelei schon von den Ziel-und Lernvereinbarungen, die sie jährlich treffen müssen. hier
Arbeitnehmer*innen evtl.. von jährlichen Beurteilungsgesprächen.

Stunde der Wahrheit

Irgendwann kommt dann der Moment, an dem man den Brief in der Hand hält und ihn öffnen sollte. Fein raus ist, wer alles geschafft hat. Ein Grund zur Freude und man kann stolz auf sich sein obwohl man das ja sowieso schon ist. Aber hier kommt noch mal die schriftliche Bestätigung von sich selbst.

Aber was, wenn nicht?
Wer durch die Prüfung gefallen ist oder eine Maßnahme abbrechen musste, findet es vielleicht nicht so toll, seine eigenen Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen noch einmal von sich selbst unter die Nase gerieben zu bekommen. Weiß man doch alles. Fühlt man doch.

Problematisch besonders, dass nach therapeutischen oder Reha-Maßnahmen/Kuren  der Brief den Absender erst erreicht, wenn dieser von der Einrichtung selbst nicht mehr aufgefangen werden kann. Mitten im Alltag, der sowieso nicht klappt, obwohl man doch so viel verändern wollte. Mit dem selbst formulierten Schlamassel steht man nun allein da. Auch wenn er wohlwollend formuliert ist, entsprechend Aufgabenstellung.

Was soll man also damit tun? Nicht öffnen? So ein Brief kann einen auch in geschlossenem Zustand immer wieder „Loser, loser “ zurufen.

Zu kurz gefragt

Sein Ziel konkret vor Augen zu haben, ist an sich eine gute Sache. Das eigene Ziel. Nicht allgemeine Erwartungen. Es zu formulieren, kann helfen.
Das allein greift aber zu kurz.
Wir leben nicht in einer Glasglocke, unsere Rahmenbedingungen unterstützen oder verhindern Veränderung.

Was brauchst du?

Hilfreich wäre, die Frage zu stellen: was brauchst du, um dein jeweiliges Teilziel zu erreichen?
Kollege*innen, die nicht auf dir rumhacken, wenn du weniger Überstunden machst, eine Anpassung des Arbeitsvolumens, regelmäßigen Unterricht, Lehrer*innen, die gut erklären können, ein ruhiges Lernumfeld, jemanden, der dich stärkenorientiert unterstützt, eine Familie, die respektiert, dass du mal allein sein willst, Entlastung von der Pflegeverantwortung, finanzielle Hilfe?

Individualisierung

Wird diese Frage nicht gestellt, wird allein auf die persönliche Veränderungsebene abgestellt, werden sowohl der Erfolg als auch der Misserfolg ausschließlich individualisiert.
Das ist leider die heutige allgemeine Sichtweise auf Menschen.

Wir sollten uns diese nicht zu eigen machen.
Nicht, um die Ursache des Misserfolges nur bei anderen zu suchen.
Es geht doch um eine möglichst objektive Einschätzung des Ergebnisses. Wer jemals eine (sinnvolle und gut durchdachte) Evaluation gemacht hat weiß, dass einseitige Fliegenbeinzählerei allein nicht reicht, um zu einer Einschätzung zu kommen, die weiterführend ist.

Stellt man eine solche Aufgabe, so ist es das Mindeste, dass man sich auch dem Ergebnis stellt. Das Misslingen liegt nicht immer nur an den Teilnehmer*innen/Client*innen/Patient*innen.

Tut man es nicht, wird hier nur Schuldzuweisung betrieben.

Was tun?

Kurzfristig wird man diese unglückselige Mode wohl nicht abschaffen können. Also kann es sein, dass man irgendwann so ein nettes Briefchen an sich selbst zu schreiben hat. Wenn du aus der Nummer nicht raus kommst, mach das Beste daraus.
Das ist aus meiner Sicht:

  • Schreibe auch für jedes Teilziel auf, welche Unterstützung oder Rahmenbedingungen du brauchst, um es zu erreichen. Ehrlich. Da es dein ganz persönliches Ziel ist, du einzigartig bist, kann für dich hilfreich sein, was für andere fatal ist.
  • Wenn die Zeit dafür zu kurz ist, bitte um Zeit-Verlängerung ( z.B. zu Hause/ auf dem Zimmer  fertig schreiben).
  • Bekommst du diese nicht, male dir ein schönes Bild, mach Krickelkrakel, tu so als ob.

Aber diskutiere nicht über die Sinnhaftigkeit dieses Briefes mit denen, die ihn als ganz tolle Hilfe ansehen!

Und falls du gerade einen Brief der Hiebe erwartest, erhalten oder herumliegen hast, also nicht zu den Glücklichen gehörst, die alles geschafft haben: lass das Ding ungeöffnet liegen, wenn es dich quält. Verstau es dort, wo du wahrscheinlich erst in ein paar Jahren zufällig drauf stoßen wirst.
Womöglich sagst dann zu diesem kleinkarierten Tun nur  „paaahhhhh…..“.

  • vormals Titel  „Bilanzbetrug“

Ich freue mich über Feedback, wie immer ohne Registrierung möglich.

 

 

 

 

 

 

 

Geschafft !?!

Es geschafft haben.
Den Karrieresprung.
Die nächst höhere Gehaltsgruppe.
Die Prüfung, den Abschluss, den Titel.

Wenn nicht gerade akut Bares dabei heraus kommt, dann zumindest Status und die Option auf Vorteile in der Zukunft. Die Option auf Chancen.

Chancen.
Für sich selbst. Für seine Kinder.
Wer fragt da schon: worauf?

Allgemein wird angenommen, wer “ eins rauf mit Mappe und Frühstück “ darf, sei ein Glückspilz.
Zwar weiß man auch, dass weder Geld noch Ansehen allein ein gutes Leben bescheren.
Dennoch erscheint es einem geradezu als Garant.

In diesen Tagen häufen sich die Jubelrufe der Eltern, deren Kinder die heiß begehrte Gymnasialempfehlung bekommen haben. Man freut sich nicht nur im Familienkreis sondern verkündet es über Soziale Netze auch dem Rest der Welt.
Natürlich ist der Nachwuchs stolz auf sich – was sonst?
Aber weiß er auch, worüber er sich freut?

Ich kenne fast niemanden, der unsere Leistungquetschen Schule, Studium, Arbeitsplatz gut und menschlich findet.
Alle möchten gesunde, zufriedene und glückliche Menschen sein.
Wünschen es besonders für ihre Kinder.

In dem Moment aber, wenn auf dem Lebenslos “ Sie könnten ein Gewinner sein“ steht, fallen alle Bedenken ab.
Ja! Das will ich!

Risiken und Nebenwirkungen wie Verlust des Wissensdursts, der Kreativität, des Selbstbewusstseins, Depressionen mit 12, Magersucht mit 15, Burn Out mit 30, Herzinfarkt mit 40 , Schlaganfall und Suchtmittelmissbrauch treffen nur die Anderen.

Ja, ich finde es gemein, wenn nur einige Kinder die Option auf ein gutes Leben bescheinigt bekommen.
Selbst wenn es nur eine Lüge ist.

Denn da sind auch welche, denen wird gesagt, sie hätten schon vor dem ersten Takt vergeigt.
Wir wissen vom Gegenteil.
Unsere Kinder auch?

Anm: bei einer lt. statistischem Bundesamt durchschnittlichen Lebenserwartung von mehr als 70 Jahren ist es ja wohl mehr als logisch, wenn spätestens im 10.Lebensjahr die Weichen für das vermeintliche Lebensglück unserer Kinder erstmals offiziell und aktenkundig gestellt werden.
Auch das haben wir geschafft.

Ich freue mich über Feedback. Um einen Kommentar zu schreiben, muss man nicht registriert sein.