Von wegen Teilhabe

Ich habe hier des Öfteren über den Irrsinn, eine Diagnose als Voraussetzung für Hilfemaßnahmen für ADHSler, Autisten und andere Menschen, die kein reibungsloses Rädchen im kapitalistischen Getriebe sind, geblogt. hier , hier und hier 

Oft habe ich auch schon darüber geschrieben, dass wir mit viel Mühe, Verständnis, Kreativität und Forschergeist immer wieder Lösungen gefunden haben, die zumindest eine gewisse Lebensqualität ermöglichen und uns den Spaß am Leben grundsätzlich nicht verderben. Dazu hier und hier

Stimmen die Rahmenbedingungen, erleben wir immer wieder Zeiten, in denen alles einigermaßen reibungslos läuft. Vor allem von außen betrachtet. Diese Rahmenbedingungen sind aber meistens starr, wachsen nicht mit.
Beispiel gefällig?
Eine zunächst äußerst stärkende und motivierende Tätigkeit unterfordert auf lange Sicht, überfordert aber zugleich durch äußere Störfaktoren wie Instabilität des Gruppengefüges und damit Tagesablaufs/Arbeitsalltags.
Oder der nächste Entwicklungsschritt raus ins Erwachsenenleben war eine Nummer zu groß und es muss wieder einen Gang runter geschaltet werden.
Aber wohin?

Sollte eigentlich kein großes Problem sein.
Passgenaue Unterstützung kann helfen und weiter gehts.

Träum weiter, liebe LeidenschaftlichWidersynnig.

Nein, nun geht der ganze Spaß wieder von vorn los.
Grundsätzlich sieht sogar die Bundesanstalt für Arbeit ( BA ) , dass Unterstützungsbedarf besteht.
Selbstverständlich müssen dafür Diagnosen her, dazu habe ich mich hier schon ausgelassen.
Klar, der ärztliche Dienst der BA wird dann auch noch einmal bemüht, die Diagnose könnte ja unzutreffend sein.
Macht doch nichts, wenn ein junger Mensch, der sich gerade damit abfinden muss, es nicht allein zu schaffen, jetzt auch noch mal hier und da vorgeführt wird, inklusive Demonstration seiner Defizite in Großformat.
Macht doch nichts, wenn die Mutter, die versucht, trotzdem Mut zu machen obwohl sie darum ringt, den eigenen nicht zu verlieren, zum wiederholten Mal durch die Bürokratie turnen muss.
Macht auch nichts, dass das alles ewig dauert und in dieser Zeit ein junger und im Prinzip motivierter Mensch ohne sichtbare Perspektive gelassen wird.

Was kostet die Welt?

Teenie will flügge werden.
Will raus in die Welt.
Möchte dabei Unterstützung.
Ist bereit, die Kröte “ ich bin behindert“ zu schlucken.
Hauptsache, es geht endlich los.

Niemand der professionellen Unterstützer fragt: was ist deine Idee?
Was brauchst du dazu?

Statt dessen darf Teenie X mal schildern , was sie alles nicht kann, was alles Probleme macht, wird vorgeführt und durchleuchtet und die ganze Familie gleich mit.
Weil die Teilhabe möglichst wenig kosten soll.
Weil eine schlechte, kostengünstige Unterstützung wie Berufsorientierungs-Warteschleifen Alibi genug sind, den sogenannten Anspruch auf Teilhabe an der Arbeitswelt abzufrühstücken.

Denkste Puppe.
Widersynnig wäre nicht Leidenschaftlich wenn sie das hinnähme.
Und Teenie nicht mein Ableger, wenn sie da nicht eigene Vorstellungen zu hätte.

Zu gerne hätte ich weiter über unser Leben mit neurologischer Sonderformatierung geplaudert, ohne diese ständig zum Thema zu machen.
Weil sie NICHT unser Dauerthema ist.

Daraus wird wohl nichts.
Die nächste Runde ist eröffnet.

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Ich freue mich über Feedback und gute Ideen. Wie immer keine Registrierung nötig.

Der akzeptierte Kauz – vom Aussterben bedroht

„SAP stellt gezielt Autisten ein“

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Diese Nachricht ging in den letzten Tagen über die Presseticker.
Eltern diagnostizierter AutistInnen mit Affinität zur IT freuen sich. Autismusverbände auch.
Das ist verständlich. Zu viele AutistInnen bekommen keine echte Chance, ihre Fähigkeiten in ein gutes geregeltes Gehalt umzuwandeln.

Einen besonderen und m.E. nicht zu unterschätzenden Aspekt hat Johannes Drischel in einem lesenswerten Artikel eingebracht:

Man sollte nur nicht annehmen, dass diese Idee neu sei und dass noch niemand zuvor auf diese Idee gekommen sei. Es sind nämlich die Autisten selbst, die schon seit langem und ganz von alleine zu SAP, zu BASF und meiner persönlichen Erfahrung in meiner Beratungs- und Seminarpraxis nach, zu VW und dort jeweils in die Entwicklungsabteilungen finden. Nur sind es überwiegend keine diagnostizierten Asperger Autisten, die dort an den PCs sitzen und hervorragende Arbeit leisten. Es sind atypische und hochfunktionale Autisten und es sind hochbegabte Menschen, die dem Autismus-Spektrum nahe stehen.Quelle

Lesenswert auch dieser aktuelle taz-Artikel über Peter Schmidt, promovierter Geophysiker, Autist und bei SAP vor 15 Jahren nicht eingestellt.

Die Möglichkeit, das zu schaffen, ist jungen Menschen aus dem Autismus-Spektrum heute jedoch stärker verwehrt. Wer heute in der Schule auch nur irgend etwas nicht so macht, wie alle anderen, wird nicht nur schief angeguckt, sondern an diverse Diagnose- Maschinen überwiesen.
Selbst Kleinigkeiten werden als “ Auffälligkeiten “ thematisiert, mit dem Kind, in der Klasse , mit den Eltern.
Der Druck zur Konformität ist enorm gewachsen. Auf die Betroffenen Kids, auf die Eltern.
Der Kauz muss repariert werden oder gelabelt.

Hier nur ein kleines Beispiel von „Toleranz“ zu Zeiten der Inklusion im Klassenraum, dem ich noch viele beifügen könnte:

Klassenarbeit. Ein Text muss gelesen werden. Nach dem Lesen muss er umgedreht auf den Tisch gelegt werden. Alle SchülerInnen fangen zur selben Zeit mit der Bearbeitung an.

Wie geht es SchülerInnen , die Texte geradezu rasant sinnentnehmend „inhalieren “ können?
a) “ …du kannst noch gar nicht fertig sein. Lies weiter …“ – also so tun als ob.
b) während des langen Wartens auf die anderen gehen die Gedanken spazieren, weg vom Thema. Neu lesen während der “ Schreibezeit“ : “ fang jetzt mit Schreiben an „…blabla

Folge : Irritation durch Störung des Arbeitsprozesses, schlechte Note.

Die Luft wird dünner für Menschen mit Besonderheiten.

Die Schule soll Kinder passgenau fürs Arbeitsleben machen.
Das klappt schlechter als gewünscht, weshalb viele Wirtschaftsunternehmen und deren Lobby kurze Ausbildungsgänge und Studiensysteme befürworten: dann können sie die jungen Leute selbst passend machen.

Der Freiraum, sich selbst für ein Berufsfeld passend zu entwickeln, wie die oben beschriebenen
“ wilden “ Autisten , schrumpft.

Dass SAP aus reiner Nächstenliebe heraus handelt, wäre mal was Neues.

Dennoch : Einige werden eine Chance dadurch bekommen, was gut ist.

Im Übrigen gibt es auch viele Menschen aus dem Autismusspektrum, die mit IT nicht viel am Hut haben. Nur zur Erinnerung.

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Diagnose: Gehindert

Wem es nicht vergönnt ist, 40 Wochen im schützenden Mutterleib heran zu reifen, muss sehen , wie er mit der kalten, reizüberfluteten Welt klar kommt. Einfach sterben ist nicht erlaubt.
Kämpfen vom ersten Atemzug an ist Programm.

Aus dem Gröbsten raus – sprich außer Lebensgefahr- könnte ja nun eine kleine Erholungspause angesagt sein.
Aber nein. Schnell aufgeholt werden soll nicht nur das Gewicht, sondern auch die sensorische und motorische Entwicklung.
Dafür zuständig ist meistens die Mutter.

Vergleichsmöglichkeiten gibt es viele: andere Kinder, diverse Tabellen in Büchern, Ratgeber, Internet.
An Beratern mangelt es nicht: Eltern, Geschwister, Freunde, Kollegen, Ärzte.
Allen gemein: sie haben keine Ahnung, wenn sie nicht auch ein ebensolches Kind begleitet haben. Nicht einmal die Ärzte.
Klappt es mit der Entwicklung nicht planmäßig, sind gleich diverse Erklärungen parat.

Die Charts:
Falsche Erziehung
Das Kind wird verwöhnt
Die Eltern übertragen Ängste und sonstwas
Falsche Ernährung

Oder
Das Kind hat nichts
Das wird schon
Das wächst sich aus

Bei weitem noch nicht alles.
Niemand traut den Eltern zu, ihr Kind zu kennen und ungefähr richtig einzuschätzen.

Kommt dazu noch Hochsensibilität ins Spiel, wie auch immer sie sich äußern mag, wird es spannend.
Das Kind soll diese verleugnen. Denn sonst ist es nicht NORMAL.
Die Eltern sollen sie verleugnen, und damit ihr Kind. Ist DAS normal?

Normal- ein Zustand der angestrebt werden muss.
Wer das sagt?
Keiner, aber es denken die meisten.
Im Rahmen der Norm. Wessen?

Was wünschen sich Eltern? Ein glückliches Kind? Haben sie in ihm den Schatz des Besonderen entdeckt, bieten sie vielleicht noch eine Weile dem mainstream paroli.

20130222-071147.jpgSpätestens im Laufe der Grundschulzeit der Wunsch: wir möchten es auch einmal einfach nur leicht haben.

Alle Versuche, Institutionen dazu zu bringen, das Kind einfach so (an) zu nehmen wie es ist und dennoch zu fördern, und zwar so, wie es dem Kind entspricht, scheitern.
Eine anerkannte Diagnose muss her.

Eine Odysee beginnt bzw. wird fortgesetzt.
Kinderarzt, Sozialpädiatrisches Zentrum, Psychotherapeut.
Ergotanten , Pädaudiologen und noch mehr – ogen und -euthen.

Statt Hilfe gibt es : das tiefe Bewusstsein, nicht richtig zu sein. Nicht zu passen.

Alle Versuche des Kindes, die Dinge in seiner Weise zu machen, werden kritisiert.

Wer über eine besondere Begabung, mit der gesellschaftlicher Erfolg verbunden ist verfügt, kann sich glücklich schätzen. Kauzig aber intelligent.
Wer eine Begabung hat, die keiner kennt, Synästhesie z.B. , kann sich glücklich schätzen, wenn er nicht für verrückt erklärt oder dumm gehalten wird.
Im ICD 10, 2008 noch als Krankheit (R20.8) aufgeführt. (1)
Nun ja, im künstlerischen Bereich ist das neuerdings chic. Immerhin.
Ist man einfach nur “ gewöhnlich Anders“ hat man Pech.
Summa summarum aber sind alle freaks und als solche werden sie auch behandelt.

Unpassend auch die Eltern, die ihr Kind nicht auf Spur gebracht haben. Oder die einfach nicht kapieren wollen : d b d d h k P ! (2)
Erst Recht wenn sie für ihr Kind trotzdem den Anspruch auf Bildung, Ausbildung und Selbstbestimmung postulieren.
Nicht individuelles Lernen ist angesagt, sondern es wird am Ziel abgespeckt. Geht ganz einfach.

Und nun kommt Inklusion . WOW.
In einer Welt, die es nicht nicht einmal Babys erlaubt, sich für den Aufrichtungsprozess individuell Zeit zu nehmen, sollen Schulen in kurzer Zeit komplett akzeptieren was vorher undenkbar war.
Kosten darf das alles nichts, das ist klar.
Ist hier nicht eher noch Sparpotential – fragt sich da der findige Politiker.
Auch hier wieder : ohne Diagnose geht gar nichts.
Nicht unbedingt einleuchtend, ist doch die Teilhabe aller das erklärte Ziel.
Wozu dann also das Ettikett?
Können wir leere Schubladen nicht ertragen?

Wer sich mit seinem Kind im Strudel der äußeren Anforderungen, eigenen Wahrnehmung und Einschätzung sowie den Wünschen und Bedürfnissen des Kindes befindet, sehnt sich aus gutem Grund nach einem Namen für das “ Anders sein „. Was keinen Namen hat n‘ existe pas.
Irgendwann die Frage: bin ich behindert? Was auch immer das sein mag.

Wer Hilfen vom Amt bekommen kann, kommt ohne anerkannte Diagnose nicht weit (es muss ja nicht die Richtige sein).
Wer einen Arbeitsplatz braucht, der speziell ausgestattet sein muss, auch nicht.
Das alles wäre kein Ding, wenn da nicht der negative Touch, die “ sei froh dass du mitspielen darfst“ – Haltung der Restwelt wäre.

Auch die schlimmste Schulzeit endet einmal.
Was dann?
Wer bisher mit seinem unsichtbaren “ Handicap “ durch gehalten hat, wird nun konfrontiert mit dem Höher, Weiter , Schneller des täglichen Broterwerbs.
„Alternative“ : Diagnose, SBH , 2. Arbeitsmarkt, Hartz IV.
Pest, Cholera, Pocken oder Aids.
Dann doch lieber Burn Out und Depressionen, immer wieder oder chronisch.

Lichtblick: immer mehr Betroffene fordern für sich offen Teilhabe ein, organisieren sich bei autworker, tokol e.v. , SeHT e.v, ADHS-Deutschland e.V und in vielen Selbsthilfegruppen und Foren.
Anders geht es wohl nicht. Umdenken auf Verordnung klappt nicht und schnell schon gar nicht.

Der Gedanke der Chancengleichheit, und darum geht es letztlich, ist nicht neu. Die Bürgerliche Revolution hatte zunächst auch die Frauen außen vor gelassen, nun ja, wir sind peu à peu auf dem Vormarsch. Sogar in der Schweiz dürfen wir jetzt wählen. Schwule, Migranten und viele andere Personengruppen werden noch immer diskriminiert, aber auch hier geht es voran, wenn auch im Schneckentempo.

Meistens nicht im Focus dieser Diskussionen : die Männer, Heteros, Weißen, Reichen, Gesunden/ Normalen – und andere Menschen der ( vermeintlichen) Mehrheit.

Wie soll Emanzipation, Inklusion oder Diversity gehen, wenn genau diese Personen nichts dazu beitragen müssen?

Wenn sich in Integrationsklassen die I-Kinder ( was für eine Bezeichnung! ), im Job die Frauen, in Ländern mit weißer Mehrheit die Schwarzen etc. anpassen, verbiegen und verleugnen müssen und von den Hinderern jeglicher Coleur nicht das kleinste bisschen Verhaltensänderung verlangt wird, noch nicht einmal thematisiert wird?
Gelungene Integration, wenn noch nach 3 gemeinsamen Schuljahren Klassenkameraden nicht kapiert haben, dass man z.B. einen Menschen mit ASS nicht zu sehr auf die Pelle rückt, dass dieser sich dann i.d. R. bedrängt fühlt und entsprechend reagiert?
Wirklich heavy, wenn man gleich zu mehreren der gehinderten Personengruppen gehört.

Materiell einigermaßen ausgestattet, gelingt es neuro-untypischen Menschen und anderen Gehinderten immer wieder, die vorenthaltene Bildung und gesellschaftliche Stellung trotzdem zu erlangen: sei es autodidaktisch, in Fernkursen, in Vereinen, in Feriencamps und mehr.

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Letztlich lässt Emanzipation sich nicht aufhalten, wenn wir nicht alle einpacken wollen.
Das hat schon der olle Marx erkannt : Kommunismus oder Barbarei 😉

(1) ICD 10 Version 2008
(2) doof bleibt doof da helfen keine Pillen

Mit diesem blogpost beteilige ich mich an den Blogger-Themen-Tagen

#einfachSein

Eine tolle Idee und ein großes Dankeschön an die OrganisatorInnen, die aus dem Autismusspektrum kommen.
Mehr dazu hier

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