Zwei in Einem

Nun habe ich endlich mal ein Buch in die Finger bekommen, in dem es um Autismus und ADHS geht. Meist werden diese Seins-Formen ja gesondert behandelt. Dabei sind beide oft miteinander vergesellschaftet. Nicht nur im neuropsychologischen Sinne.
ADHSler sind häufig befreundet mit Autisten und umgekehrt, in vielen Familien kommen beide Prägungen vor.

Mit seinem Buch Autismus und ADHS – zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit geht  Prof.Dr.med. Ludger Tebarg van Elst der Frage nach,  wo die Grenzen zwischen Normvariante, Störung und psychischer Erkrankung verlaufen. Autismus steht dabei exemplarisch im Vordergrund, ADHS wird in einem eigenen Abschnitt behandelt und Parallelen zu Tic-Störungen werden immer wieder aufgezeigt.

Aber darf man Autismus oder ADHS überhaupt als Normvariante begreifen?
Das subjektive Empfinden von nicht so schwer betroffenen Menschen im Spektrum und solchen mit guten Rahmenbedingen im sozialen Umfeld plus individuellen Kompensationsmöglichkeiten geht sicherlich eher dahin, die eigene neuropsychologische Sonderformatierung als Normvariante zu sehen.
Ich habe hier schon oft betont, wie fatal ich es finde, nötige Unterstützung nur im Rahmen des Therapie-Business zu bekommen und sich damit als krank definieren zu müssen ( definiert zu werden). Diese unpassenden Hilfen taugen meist wenig, denn sie schießen über das Ziel hinaus. Praktische Unterstützung bei der Alltagsbewältigung (oft bei den kleinen , „einfachen “ Dingen) wäre oft besser und nachhaltiger.

Viele Menschen im Spektrum kämpfen jedoch mit massiven Einschränkungen. Dieses Leid darf nicht klein-geredet werden, nötige medizinische und soziale Unterstützung nicht beschnitten werden.
Das sieht auch der Autor und geht am Ende des Buches ( S. 154) auf diese Befürchtungen ein. Er macht deutlich, dass seine Intention in die andere Richtung geht: differenzierte Betrachtung ohne Leid zu verharmlosen.

Wann werden Symptome und Eigenschaften zur Störung oder Krankheit?

Was ist normal?
Was ist eine Krankheit?
Was ist eine psychische Störung?
Was ist eine Persönlichkeitsstörung?
Was ist Autismus?
Was ist ADHS?
Wie denken wir über unsere Gesundheit?

Das Buch ist viel zu detailliert und komplex, um hier näher auf die inhaltliche Abarbeitung der  obigen Kapitel einzugehen. Ich habe es als Laie gelesen – und mir hat besonders gefallen, dass neben der medizinischen, wissenschaftlichen Betrachtungsweise immer auch eine historische und philosophische Perspektive eingenommen wurde.  Ich fand es spannend, mehr  über den Wandel der klassifikatorischen Prinzipien psychischer Störungen zu erfahren: habe man früher noch nach Ursachen gesucht( Ätiologie), definierten die Klassifikationssysteme ICD und DSM heute nach rein deskriptiven Kriterien unter weitgehender Aufgabe eines kausalen Denkens ( S. 42). Folge davon sei, dass der Störungsbegriff von Patienten, Ärzten und Wissenschaftlern im Sinne einer klassischen Krankheitskategorie missverstanden würden ( S.47).

Auch wenn es im Ergebnis m.E. gut ist, dass mit dem Spektrum-Störungs-Begriff auch Menschen erfasst werden, die nicht so stark betroffen sind, aber dennoch Unterstützung gut gebrauchen können, so wird mir doch schummerig bei dem Gedanken, dass medizinische Kategorien  so stark  von Moralvorstellungen und Kompromissen in gesundheitspolitischen Gremien ( die sich dann auf Klassifikationssysteme einigen) abhängen.

Diversity
Eigentlich geht es doch darum, Menschen mit unterschiedlichster Persönlichkeitsstruktur Raum für individuelle Entfaltung zu geben, nicht jede Abweichung vom vermeintlich Normalen zur Krankheit zu erklären und jeden Menschen in seiner Besonderheit anzunehmen.
Und zu unterstützen, wenn und wie er es braucht.

Ein lesenswertes Buch mit Blick über den
medizinischen/wissenschaftlichen Tellerrand,  das für ein solches Verständnis von Menschen mit Autismus/ADHS wirbt.

 

Ich freue mich über feedback- wie immer ohne Registrierung  möglich.

 

 

 

 

 

 

 

Logisch flirten, aber wie?

„Wehe, wenn du mich enttäuscht,“ sagte Rosie.
„Ich erwarte permanente Verrücktheit.“

Das Rosie Projekt, Graeme Simsion , Fischer Krüger 2014

Don hat eine Assistenzprofessur am Institut für Genetik.
Gene, sein einziger und bester Freund , ausgewiesener Halodri vom Institut für Psychologie bittet ihn, einen Vortrag über das Asperger -Sydrom für ihn zu übernehmen.
Trotz geringer Vorkenntnisse und einem extrem durchgeplanten Tagesablauf, in den so ein Extra eigentlich nicht passt, übernimmt Don. Nicht ohne Recherche:

Natürlich wurden in den Büchern und Forschungsarbeiten auch die Symptome des Asperger-Syndroms beschrieben, und ich kam zu dem vorläufigen Schluss, dass die meisten davon lediglich Variationen der menschlichen Hirnfunktionen seien, die man unzutreffend als medizinisch auffällig eingestuft hatte, weil sie nicht den gesellschaftlichen Normen entsprachen. Gesellschaftliche Normen sind dabei jedoch kulturell bedingt und spiegeln nur die gängigsten menschlichen Konfigurationen wider anstatt das gesamt Spektrum.
Der Vortrag war für 19:00 an einer Schule in einem nahe gelegenen Vorort angesetzt. Ich kalkulierte zwölf Minuten für die Fahrt mit dem Fahrrad ein und gab weitere drei Minuten dazu, um meinen Computer hochzufahren und mit dem Projektor zu verbinden. ( S.13 )

Schnell wird dem Leser klar, dass Don mit dem Thema selbst mehr zu tun hat, als er selbst ahnt. Als er seinen Freund bei der Veranstalterin mit Angabe des wahren Grundes – ein Date – entschuldigt, kommt er hinsichtlich der Ausrede in Bedrängnis:

Es scheint mir kaum möglich, eine derart komplexe Situation, in der es um Täuschung und Einschätzung der mutmaßlichen emotionalen Reaktion eines anderen Menschen geht, zu analysieren und dann eine eigene plausible Lüge zu entwerfen, während man gleichzeitig ein Gespräch in Gang halten muss. Aber genau das ist es, was die Leute von einem erwarten. ( S. 16 )

Don macht seine Sache gut.
Die Zuhörer, betroffene Kids, sind begeistert, die Eltern und Veranstalterin eher weniger.

In einem nachfolgenden Gespräch mit der Veranstalterin des Vortrags weist diese ihn darauf hin, dass viele Menschen gar nicht wissen, dass sie Asperger -Autisten sind. Und während Don noch daran denkt, dass man das doch mit einem Fragebogen ermitteln könnte, bekommt er eine geniale Idee, um eines seiner eigenen, ihm unter den Nägeln brennenden Probleme anzugehen.

Eine Zeitlang haben Gene und Claudia ( Genes Frau, A.d.V.) versucht, mir beim Partnerin- Problem zu helfen. Leider beruhte ihr Ansatz auf dem traditionellen Verabredungsparadigma, das ich bereits aufgegeben hatte, da die Erfolgswahrscheinlichkeit in keinem Verhältnis zu Aufwand und negativen Erfahrungen stand.
Ich bin neununddreißig Jahre alt, groß, durchtrainiert und intelligent, mit relativ hohem gesellschaftlichen Status und überdurchschnittlichem Einkommen als Assistenzprofessor.
Gemäß den Gesetzen der Logik sollte ich für eine ganze Reihe von Frauen attraktiv sein. …….
……Schon immer habe ich mich schwergetan, Freundschaften zu schließen. Und die Mängel, die diesem Problem zugrunde liegen, scheinen auch meine Bestrebungen hinsichtlicher romatischer Beziehungen zu beeinträchtigen.
( S. 9 )

Don beschließt, einen Fragebogen zur Ermittlung der perfekten Ehepartnerin zu entwickeln und geht dabei äußerst akkribisch vor.
Beratung dabei erhält er von seinen Freunden Gene und Claudia.
Mit dem Fragebogen ist es natürlich nicht getan, er muss Frauen finden, die ihn ausfüllen und eine Reihe von realen sozialen Begegnungen in Kauf nehmen.
Die kommunikativen und konventionellen Fallstricke, in denen er sich dabei immer wieder verheddert, hindern ihn nicht, sein Ziel hartnäckig zu verfolgen.

Er lernt die eher chaotische Rosie kennen, die sich von Anfang an als Ehefrau disqualifiziert und ihm seinerseits ihr Projekt, die Suche nach ihrem biologischen Vater, schmackhaft macht.

Wir erleben eine Reihe von tragisch- komischen Ereignissen, in denen Don zum einen über sich selbst hinaus wächst, zum anderen aber seine Grenzen erkennt und schlussendlich zu sich selbst findet.
Letzteres führt jedoch über den Irrweg des sich Verstellens, woran seine Freunde Gene und Claudia mit ihren (neurotypischen) Tipps nicht ganz unschuldig sind und was fast beinahe dazu führt, dass Don seine absolut unpassende Rosie doch nicht bekommt.

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Eine kurzweilige, humorvolle Geschichte mit einer Spur (Selbst?)Ironie erzählt.
Beste Urlaubslektüre.

Und wer jemals mit Asperger-Autisten zu tun hatte oder selbst einer ist, wird so einiges aus seinem eigenen ( Beziehungs-)Leben wieder erkennen.
Aber natürlich komplett unwissenschaftlich.
Daran ändert auch der beste Fragebogen als roter Faden der Geschichte nichts.

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Nicht zu nah – unter die Haut

Liebt‘ ich am Himmel einen hellen Stern
Und wünscht‘ ihn zum Gemahl; er steht so hoch!

An seinem hellen Glanz und lichten Strahl
Darf ich mich freuen ; in seiner Spähre nie.

Shakespeare, Ende gut, alles gut

Ein Jugendbuch, das mit einem Zitat von Shakespeare beginnt, Teenie’s eigenen Geldbeutel schmälert und sie fast pausenlos 1,5 Tage lang fesselt, weckt meine Neugierde.
Nachdem Teenie aus dem 450seitigem Land der Fantasie – nach durchlesener Nacht – wieder aufgetaucht ist, befrage ich sie.

LW: Du hast Frostblüte von Zoë Marriott quasi in einem Stück gelesen.
Warum?
T: Frostblüte ist interessant, spannend und gut zu verstehen.

LW: Wovon handelt es?
T: Einem Mädchen, das Frost heißt und einen Wolfsdämon in sich trägt.

LW: Wo und wann spielt es?
T: In einer ausgedachten Welt in einer mittelalterlichen Zeit.

LW: Frost, was ist das denn für ein Name?
T: Eigentlich heißt sie Saram, aber die Leute nennen sie Frost, weil sie eine Narbe im Gesicht hat, die immer kalt ist. Nur ihre Mutter sagt Saram und das bedeutet ‚ Kummer‘.

LW: Wie kommt Frost zu dem Wolfsdämon?
T: Bei ihrer Geburt hatte sie die Nabelschnur um den Hals gewickelt und starb.
Ihre Mutter rief einen Wolfsdämon um Hilfe und hat mit ihm einen Pakt geschlossen: das Kind würde wieder leben, dafür aber den Wolfsdämon in sich tragen.
Der Vater, ein großer Jäger, wird vor Frost’s Geburt vom Wolfsdämon getötet.

LW: Weiss Frost, dass sie einen Wolfsdämon in sich hat?
T: Erst mal nicht. Aber als sie 8 Jahre alt ist, wird sie geärgert und von Jungs mit Steinen beworfen. Davon blutet Sie. Da kommt der Wolfsdämon erstmals zum Vorschein.
Immer wenn sie verletzt oder von Gefühlen überwältigt ist, bricht der Wolfsdämon durch.

LW: Erschrickt sie sich darüber ?
T: Nein, in diesen Momenten merkt sie ihre Veränderung nicht.
Der Wolfsdämon beschützt sie auch.

LW: Was sagen ihre Freunde dazu?
T: Sie hat keine.

LW: Wie geht die Geschichte weiter?
Die Mutter stirbt und als Jugendliche ist sie allein auf Wanderung um zu arbeiten, mal hier, mal da. Sie bleibt höchstens 2 Tage an einem Ort, um keine Menschen zu verletzen, falls der Wolfsdämon aus ihr heraus bricht.

LW: Ist sie deshalb unglücklich?
T: Nein, aber auch nicht glücklich.

LW: Lernt sie noch Menschen kennen ?
T: Ja. Vor allem Luca und Arian. Luca ist der Anführer der Soldaten, die das Königreich vor Aufständischen beschützen sollen und Arian ist sein Leutnant.

LW: Wissen diese, dass sie einen Wolfsdämon in sich trägt?
T: Am Anfang nicht.

LW: Findet sie doch noch einen Freund?
T: Ja, aber wen, verrate ich nicht.

LW: Was gefällt dir besonders an dem Buch?
T: Wie die Geschichte sich mehrmals wendet.
Dass das Ende anders als erwartet ist.
Die Geschichte zeigt, dass jeder Mensch 2 Gesichter hat, nicht nur gut oder nur böse ist.
Es kommt viel Gefühl darin vor.
Frost finde ich sympathisch, weil sie anders als die anderen ist. Sie ist mutig , aber sie macht auch Fehler. Dann versucht sie, diese wieder gerade zu biegen.
Sie bleibt teilweise eine Einzelgängerin, nur manchmal nicht.
Das hat in manchen Situationen im Buch nicht gepasst, ich hätte das anders gemacht.
Es wäre aber für alle zu riskant, wenn sie zu eng mit anderen Menschen wäre, deshalb verstehe ich sie andererseits.
In der Geschichte finden Frost und die Soldaten Freunde, verlieren aber auch welche. Manchmal verlieren sie sich sogar selbst.
Man erkennt, dass es nichts bringt, sich zu verstellen sondern besser ist, zu sich, so wie man ist, zu stehen.

LW: Wem würdest du das Buch empfehlen?
T: Jugendlichen, die Spannung und Fantasy mögen aber auch gerne nachdenken. Egal ob Junge oder Mädchen.
Manche Stellen sind nicht leicht zu verstehen, besonders wenn es um Gefühle geht. Da braucht man etwas Geduld und muss eine Denkpause machen.

LW : Vielen Dank, dass ich deine Buchbesprechung auf meinem Blog veröffentlichen darf.
T: Gerne doch. Das Buch kann man gut verschenken * grins *

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Frostblüte, Zoë Marriott, Carlsen Verlag – erhältlich im steuerzahlenden regionalen Buchhandel und öffentlichen Bibliotheken.

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Wenn ich Dich umarme, hab keine Angst : eine wahre Geschichte / Fulvio Ervas

Heute nur ein Hinweis auf eine tolle Buchbeschreibung.
Eltern von Kindern, die die Welt anders erleben als Andere lernen fast immer auch diesen anderen Blick, zumindest ein wenig.
Das entschädigt auf wunderbare Weise für den ganzen Stress und Ärger mit der Normalo-Welt, nimmt aber leider nicht die Sorge und Verletztheit.

Kommt auf die lange -Winterabende-Leseliste.

Reingefallen?

Bluff – Die Fälschung der Welt.
Ein Buch von Manfred Lütz

Irgendwas hat mich neugierig auf dieses Buch gemacht.
Vielleicht der Titel.
Der Autor, dessen Buch “ Irre – Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen “ mir gut gefallen hat.
Eine interessante Aussage in dem hier beschriebenen Interview.

Nun hab‘ ich es gelesen.

„Es wird mit einigem Aufwand für verunsicherte Zeitgenossen eine künstliche Welt erzeugt, die sehr real erscheint, eine schöne neue Welt, in der natürlich nichts unklar sein darf und in der es dank Google keine unbeantworteten Fragen mehr gibt, in der Drogenabhängige besonders aufwendig therapiert und psychisch Kranke in professionelle Ghettos abgeschoben werden können, eine Welt, in der also die absolute Normalität herrscht, in der alle Tyrannen als verrückt gelten und unsereins selbstverständlich als total normal ……. eine Welt, in der Kunst ein Geschäft und Kinder Erziehungsobjekte sind, mit anderen Worten eine Welt, in der es keine existienzielle Beunruhigungen gibt, weil es in ihr scheinbar absolut sicher nur eine einzige reale Welt gibt, die man sehr gut kennt und in der daher auch nichts wirklich Unerwartetes geschehen kann….
Aber Moment mal.
War da nicht noch etwas?“
(alles S. 16 )

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In den 5 Hauptabschnitten behandelt Lütz jeweils für sich abgeschlossene Welten(sichten):

Wissenschaftswelt
Psychowelt
Medienwelt
Finanzwelt
Gesundheitswelt

anhand derer es ihm darum geht aufzuzeigen, wie man sich von echtem Erleben verabschiedet, geht man auch nur in einer dieser Welten zu sehr auf, hält sie ausschließlich für das A und O des Lebens.
Total der Wissenschaftsgläubigkeit verfallen, werden bisher unerklärte Phänomene wie z.B. Gefühle auf neurobiologische Prozesse reduziert und damit ihres Wesentlichen beraubt.
Wer sich den ganzen Tag den Medien aussetzt und glaubt, was Photoshop & Co, Reality Soaps und Nachrichten uns als Realität verkaufen wollen, verliert womöglich den Blick und die Akzeptanz für die Vielfalt menschlichen Aussehens, Verhaltens und Handlungsvarianten.
Arm dran ist, wer Reichtum für das allein selig machende hält.
Menschen, die dem Gesundheitswahn verfallen sind, sind oft kränker als sie denken.
Auch eine esoterische Sicht auf die Welt und womöglich entsprechend strenge Lebensweise sind nicht unbedingt bewusstseinserweiternd, sondern oft das Gegenteil.

Zu Recht stellt Lütz bei der Beschreibung dieser Welten die Frage:

Wo ist der Ausgang?

Auch seinen Überlegungen, dass man nicht allen Aspekten dieser Welten komplett entsagen muss, um das „echte“ Leben nicht zu verpassen, sondern es auf die Dosierung ankommt, stimme ich zu.

Womit wir beim „Aber“ sind.
Bislang habe ich ihn nur als Psychotherapeuten wahrgenommen, nicht aber als Theologen. Dafür kann er ja nichts.
Also wundert es nicht, dass das Thema Gott und Glaube in diesem Buch eine Rolle spielt, ich aber nicht damit gerechnet habe.
Das allein finde ich nicht besonders tragisch, es sind ja durchaus Themen, mit denen man sich auseinandersetzen kann und sollte.
Wirklich genervt hat mich hingegen, dass er eine Scheinwelt nach der anderen auseinander nimmt um an jedem Kapitelende die Nagelprobe anhand der Frage: kommt Gott darin vor, ist dort Raum für Glaube? vorzunehmen.
Natürlich nicht.
Seine Wahrheit:

Wer das wahre Leben nicht verpassen will, darf Gott nicht verpassen.

Dies empfand ich als aufdringlich und auch als Bluff.
Denn weder auf dem Klappentext des Buches, noch in dem mir bekannten Interview wurde ein solcher Zusammenhang auch nur angedeutet.

Es bleibt die Frage: Was will Lütz?
Die eine Scheinwelt durch eine aus meiner Sicht andere Scheinwelt ersetzen?
Ich habe das Buch nicht in die Ecke gepfeffert ( wonach mir ab und an war ), sondern bis zum Ende gelesen.
Und bin froh darüber.
Lütz geht nicht unkritisch mit der Institution Kirche um.
Angesichts unserer eher wüsten Vergangenheit tut sich Westeuropa, insbesondere Deutschland, schwer mit dem Rückgriff auf kollektive, historisch gewachsenen Wertvorstellungen, welche dem Einzelnen eine Orientierung geben könnten.
Was es Scheinweltschöpfern erleichtert, Fuß zu fassen.

Im letzten Teil des Buches , Finale , werden durchaus interessante Überlegungen angestellt, wie es möglich ist, sich von diesen scheinbar perfekten Weltbildern zu emanzipieren. Selbstredend erwähnt er dort wieder diverse Begegnungen mit Gott, unspektakuläre Offenbarungen desselben bei einigen prominenten Menschen.
Aber eben auch Lebensumstände, die einen auf das Wesentliche zurück werfen, eine Krankheit, Tod eines geliebten Menschen oder unfassbares simples Glück.

Es mag sein, dass manche Menschen dafür Gott brauchen.
Viele Menschen haben einen besonderen Sinn des Lebens, der z.B. in gesellschaftlichem Engagement liegen kann.

Wie auch immer Lütz es nennt: unser Dasein hat etwas mit Emotionen, Moral und Werten, Gut und Böse, Leben und Tod zu tun.
Darüber ab und an einmal nachzudenken, vielleicht auch mal den Versuch des Perspektivwechsels zu unternehmen, kann nicht schaden.
Dabei ist das Buch auf jeden Fall behilflich.

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Überraschend anders….

…Mädchen und Frauen mit Asperger

Ein Buch von Dr. Christine Preißmann.
Gerade erschienen im Trias-Verlag.

Es ist nicht mein erstes Buch zum Thema.
Um es gleich vorweg zu nehmen: es ist das Beste, dass ich je zum Thema gelesen habe.

Tony Attwood beschrieb bereits in diesem Artikel, dass bei Mädchen in Hinblick auf Asperger etwas anders geschaut werden muss als bei Jungen und der bezweifelt, dass Jungen so krass überproportional betroffen sind, wie immer behauptet wird. Er geht vielmehr davon aus, dass sich die autistischen Besonderheiten bei Mädchen u. a. sozialisationsbedingt anders äußern als bei Jungen.
Ihre Spezialinterssen sind häufig weniger ausgefallen als die der Jungen, aber die Intensität und Qualität übersteigt die ihrer Alterskameradinnen um vieles. Auch ist die soziale Kompetenz meist besser entwickelt- geschuldet dem entsprechenden Erwartungsdruck der Gesellschaft auf das weibliche Geschlecht.

Obwohl mittlerweile bekannt ist, dass Frauen häufig körperlich und psychisch andere Symptome entwickeln als Männer, wird dies bei der Diagnostik nur wenig berücksichtigt (1) und viele Mediziner und Therapeuten ignorieren diese Tatsache weiterhin.
So orientieren sich die Diagnosekriterien des ICD-10 auch heute noch an den männlichen Symptomen und deshalb erhalten viele betroffene Mädchen nicht die Diagnose Asperger, sondern alles Mögliche andere: Sozialphobie , Zwangsstörung, Depression, sehr häufig ADHS oder oppositionelle Charakterzuordnungen – der reinste Gemischtwarenladen fehldiagnostizierter psychischer Krankheiten. (2)

Um so begrüßenswerter ist dieses Buch.
Angenehm, ein deutschsprachiges Buch in den Händen zu halten. Nicht selbstverständlich.
Hilfreich vom Alltag in Deuschland mit dreigliedrigem Schulsystem, hiesigem Ausbildungs- und Gesundheitswesen zu lesen.
Was die Bewertung der Symptome angeht, ist unsere westeuropäischen Kulturprägung Maßstab.
Ausnahmsweise einmal sinnvoll, diese Begrenzung, denn so hilft es den hier geprägten Mädchen und Frauen am meisten.

Hier werden nicht die Diagnosekriterien rauf und runter analysiert.
Es kommen betroffene Erwachsene ebenso zu Wort wie Mütter von betroffenen Mädchen.

Das An-Erkennen der autistischen Besonderheit, die sich anders äußert als bei Jungen, deren Akzeptanz durch Familie und Umfeld, das Bestehen im Alltag stehen im absoluten Vordergrund.

Die Autorin ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie und selbst Autistin.
Sie ist nicht nur eine Fachfrau, sondern kann aus eigenem Erleben berichten.
Sehr anschaulich, wenn es um ihre Probleme in ihrer Kindheit und Jugend, in ihrer Ausbildung und im Arbeitsallltag geht.

Im Abschnitt über die Schulzeit wird schnell klar, wie autistische Mädchen sich anstrengen, nicht aufzufallen, eher überangepasst sind. Autistische Mädchen können ihre Besonderheiten besser tarnen als Jungen. Einerseits hilfreich- andererseits Dauerstress pur.
Hier sind die Lehrer gefordert, genau hinzusehen und die erforderliche Unterstützung zu geben.

Mütter ebenso wie erwachsene Betroffene schildern, wie sich die Probleme während der Pubertät in dem Maße verstärken, wie die sozialen Anforderungen an die jungen Frauen steigen.
Tiefe Einsamkeit– dadurch zeichnet sich für fast alle Mädchen die Pubertät aus. Die Entfernung zu Gleichaltrigen nimmt zu.
Es ist zu lesen von sich selbst für ihr „Anders-sein“ bestrafenden Mädchen und von hilflosen Müttern, denen es das Herz bricht, ihr Kind so einsam zu sehen und kaum helfen zu können.

Von der Diskrepanz, das weibliche Schönheitsideal vor Augen zu haben, zu sehen, wie es anderen Mädchen und Frauen nicht nur Stress, sondern auch Freude bringt, sich chic zu machen – und selbst überhaupt keine Lust, oft noch nicht einmal eine Ahnung davon zu haben, wozu das gut sein soll.
Von der unterschiedlichen Bewertung der Verweigerung von Konventionen durch Mädchen/Frauen oder Jungen/Männer.
Der Schwierigkeit, zwar beruflich auf Kongressen unterwegs sein zu können, aber im Schwimmbad die Orientierung zu verlieren. Dem Unverständnis der Umwelt.

Das Thema Partnerschaft und Sexualität.
Allein der Frauenkörper erfordert mehr Flexibilität im Umgang mit sich selbst, als Männer sich vorstellen können. Ein Hort der Verunsicherung für jede junge Frau – erst Recht aber wenn sie Autistin ist. Die meist extrem sensorische Empfindsamkeit ist dabei eine zusãtzliche Last.

Betroffene Männer finden oftmals eine Frau, die sich gerne kümmert, die sozialen Kontakte pflegt und vieles mehr. Erwachsene Autistinnen sind da mehr auf sich gestellt. Der Typ “ zerstreuter Professor“ ist als Rollenmodell für Frauen nicht vorgesehen und löst bei Männern eher selten einen Beschützerinstinkt aus.

Das Thema Kinderwunsch/ Familie bleibt selbstverständlich nicht außen vor.
Da viele Frauen erst sehr spät ihre Diagnose erhalten, gibt es bis jetzt wenig offizielle Hilfsangebote für autistische Mütter. Eine Familie stellt nicht gerade geringe Ansprüche an Flexibilität, soziale Kompetenz, Multitasking und sensorische Belastbarkeit.
Dinge, die auch Nicht-Autistinnen belasten und ohne Unterstützung kaum zu schaffen sind.
Hier die klare Aufforderung an Betroffene, sich darüber Gedanken zu machen, welches Lebensmodell zu ihr passt. Unter Berücksichtigung eigener Möglichkeiten und Vorlieben.
Kein Ratgeber im Sinne von: Autistinnen sollten lieber so oder anders leben.

Das Leben einer Asperger-Autistin in einer Welt von Nicht-Autisten ist brutal anstrengend.(3)
Frauen mit Autismus sind einem höheren Risiko für Depressionen ausgesetzt als betroffene Männer. Sie haben oft ein stärkeres Bewußtsein für soziale Schwierigkeiten, die sie erleben, und die lebenspraktischen Konsequenzen. Sie sind auch einem größeren gesellschaftlichen Druck ausgesetzt. (4)

Bei allem ist das Buch dennoch positiv.
Es enthält viele Beispiele gelungener Problemlösestrategien, oft erfolgreich aufgrund besonderer Fähigkeiten, derer sich die Betroffenen häufig lange nicht bewußt sind.
Jedes Kapitel schließt mit hilfreichen Tipps zur eigenen Alltagsbewältigung bzw. Unterstützung durch Lehrer, Eltern, Freunde etc. ab.

Wie kann ich entspannen?
Wie finde ich die richtige berufliche Nische, wie will ich leben?

Berichte über positive Erfahrungen mit Selbsthilfe-und Therapiegruppen für Mädchen und Frauen- die es leider viel zu wenig gibt, runden das Bild ab.

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Nicht 1 Mal wird das Wort “ Störung“ benutzt, womit sich das Buch wohltuend von anderen Publikationen abhebt. Wohl wird von “ Behinderung“ gesprochen, jedoch weniger im Sinne von Krankheit denn von in der Person und Umwelt bedingten Hindernissen, auf deren Größe durchaus Einfluss genommen werden kann.

Immer wieder wird deutlich, wie wichtig es für die Mädchen und Frauen ist, ihren eigenen Lebensweg zu finden, der nicht selten ungewöhnlich ist.
Und dann in seiner Befolgung Unterstützung durch Eltern und andere Bezugspersonen zu erhalten.

Ein Buch, mit dem das Verständnis der weiblichen Ausprägung von Asperger erheblich erhöht wird-wenn es denn gelesen wird von Eltern, Lehrern, Ärzten, Therapeuten, Selbsthilfegruppen und nicht zuletzt von den Betroffenen selbst.

(1) Dieser generell fehlende Genderblick im medizinischen Bereich kann dann schon mal Frauen das Leben kosten – wenn z.B. ein Herzinfarkt nicht als solcher erkannt wird, um ein extremes Beispiel zu nehmen.. hier
(2) S.157
(3) S. 145
(4) S. 111

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