Darf´s auch ein bisschen mehr Leben sein?

Lange habe ich  überlegt, ob ich dies hier mal thematisiere.
Weil es so viel Irritationen bei dem Thema gibt.
Wir idealisiert oder hart kritisiert werden, alles möglich ist zwischen diesen Polen.
Es so sehr darauf ankommt  von wem und mit welchem Interesse wir betrachtet werden.

Es geht um uns , die mit ihrem jungen erwachsenen Kind  aus dem Autismus-Spektrum zusammen leben und versuchen, es bei dem  Schritt in die Arbeitswelt  zu unterstützen.

Unsere erwachsenen Kinder sind es leid, unsere Unterstützung zu brauchen. Verständlich.
Wir Eltern sind nach mehr als 18 Jahren Kampf um Akzeptanz für unsere Kinder erschöpft. Nicht verwunderlich.
Die schwierige Suche nach guten Wegen für beide Seiten.
Frust auf beiden Seiten.
Streit.
Immer wieder Hoffnung, Enttäuschung, Hoffnung.

Was ist passiert?

Solange die Kinder klein sind, ist es relativ leicht zu akzeptieren, dass der Elternjob auch mit sich bringt, sein eigenes Leben zu einem großen Teil darauf auszurichten. Wie alle Eltern verzichten wir einerseits und gewinnen andererseits.
Den Stress mit Behörden, Ärzten, Therapeuten, Lehrern,  bekommen wir gratis dazu.

Wir erleben unsere Kinder nicht nur defizitär, sondern bekommen auch die genialen, charmanten,  talentierten  – also positiven Seiten und Stärken unserer Kinder mit. In dem Maße, wie wir unseren Kindern eine relativ barrierefreie Umgebung schaffen können, sehen wir, wie sie sich darin entfalten. Es gelingt oft, auf diese Weise Hobbies für unsere Kinder zu ermöglichen, solange wir irgendwie als Sicherheitsnetz im Hintergrund  dabei sind. Wir haben eine Idee davon, was gehen kann weil wir unsere Kinder gut kennen und schaffen für sie Möglichkeiten, die von unseren Kindern angenommen werden.

Schule gehört nicht zur barrierefreien Zone. Die Störungsanfälligkeit unserer Kinder dort ist  entsprechend. Der Blickwinkel  auf unsere (und auch die anderen) Kinder sowieso defizitär.
Da hilft  nur Schadensbegrenzung und Wundversorgung.

Oft reicht das nicht und unseren Kindern wird das Recht auf Bildung verwehrt- bis dahin, dass keine (Regel)Schule bereit ist, sich auf viele unsere Kinder einzustellen. Bitter.

Und dann ist die Schule  beendet, die Kinder werden erwachsen. Entwickeln eigene Vorstellungen  vom Leben, formulieren selbst Ansprüche. Das alles ist grundsätzlich toll und fällt in das Kapitel Ablösung von den Eltern ( und umgekehrt). Das ist bekanntlich allgemein kein leichter Prozess aber wenn er geglückt ist, können alle aufatmen.

Perspektiven ?

Jugendliche und junge erwachsene Autist*innen haben jedoch nur eingeschränkte Möglichkeiten, ins selbst bestimmte Erwachsenen-Leben hinein zu  wachsen. Für das Leben in einer Wohngemeinschaft fehlen ihnen vielleicht die Freunde und Bekannte. Möglicherweise ist das auch gar nicht die bevorzugte/passende Wohnform. Alleine wohnen ist oft nicht nur finanziell keine Option, weil es ganz ohne Unterstützung doch nicht geht.
Der Wunsch, endlich aus den Kinderschuhen raus zu wachsen, ist da und kann doch nicht umgesetzt werden.

Der Arbeitsmarkt schreit nicht: hallo willkommen du junger Mensch mit Potenzial!

Vielmehr winken Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit mit eingeschränkten Ausbildungsmöglichkeiten. Und was noch viel schlimmer ist:  es geben sich immer mehr Träger dieser Maßnahmen als Autismus-Experten aus ohne es zu sein.
Scheitern ist vorprogrammiert.
Alternative: Werkstatt für behinderte Menschen?
In Deutschland leider ja.
Niemand ist wirklich daran interessiert, unseren Kindern die erforderliche Unterstützung auch zu geben.
Hauptsache, sie tauchen nicht in der Arbeitslosenstatistik auf.

Und wir Eltern?

Wir sehen uns damit konfrontiert, dass all unsere Bemühungen, unseren Kindern so viel Alltagskompetenz wie möglich zu vermitteln, nicht ausgereicht hat für  einen Job im ersten Arbeitsmarkt.
Es stimmt, wir sind über uns selbst gefrustet, weil wir versagt haben.
Wir sind noch  mehr gefrustet, weil unsere Liebsten es so schwer haben.
Wir noch immer nicht verstehen, wie man denn all die positiven Wesenszüge und Fähigkeiten unserer Kindern nicht entsprechend honoriert.
Weil wir irgendwann nicht mehr da sind und sie dann klar kommen müssen.
Das macht uns Angst und traurig.
Für uns selbst, weil sich unser Leben weiterhin zu sehr an unseren Kindern ausrichtet. Weil es für uns auch als Alte nicht leichter wird, selbst  wenn unsere Energie weniger wird.
Wir selbst keine Belastung werden wollen/dürfen.

Und für unsere Kinder, die nun ins Gröbste rein geschmissen werden, anstatt hinaus zu wachsen. 

Die Situation ist bekannt

Das alles sind keine unbekannten Größen. Auf Autismus-Fachtagen wird  seit Jahren darüber referiert. z.B. dies
Es gibt genügend Literatur dazu.

Was fehlt, ist der gesellschaftliche Wille, das wirklich zu ändern. Beispiel: die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes  letzten Donnerstag.

Noch weniger spricht man über die  Menschen in Pflegeverantwortung.
Dazu gehören ja nicht nur die Eltern, auch Geschwister können damit konfrontiert sein.
Alles nur  Privatsache?

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