Neurodivers durch die NoG20 -Tage

Ganz von allein wache ich heute morgen auf. Irgend etwas ist anders. Ich horche. Ein Bus fährt an. Ein PKW rollt vorbei. Es dauert eine Weile, bis ich kapiere, dass es das Ratta-ratta-ratta-ratta der Militärhubschrauber ist, das fehlt. Kein einziges Lalülala zu hören.
Ein Blick auf die Uhr: schon fast 09:00 h – ungewöhnlich für die letzten Wochen. Teenie erscheint kurz danach auf der Bildfläche, findet diese Ruhe richtig unheimlich.

Grundsätzliches, auch wenn alle nur über Krawall reden

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Kulisse in der leeren Innenstadt – 1 Woche vor dem Gipfel

Ihr werdet es mehr oder weniger in den Medien verfolgt haben: meine Stadt war Gastgeberin des G20, zu dessen politischer Bedeutung sich Gerhard Mersmann in form7 Gedanken  gemacht hat:

Diese Länder haben sich bereits seit 1999 das Recht herausgenommen, außerhalb der Vereinten Nationen über die Probleme dieser Welt zu reden und sie zu lösen. Die Differenzierung wurde vorgenommen, weil dieser G 20, in dem die leidende Seite dieser Welt keine Stimme hat, trefflich über alles redet, aber Probleme gelöst hat er bislang nicht. mehr

Eine Nachbetrachtung mit Blick auf unsere demokratischen Grundrechte nimmt Günter Urabanczyk vor:

Es ist jedenfalls ein Unding, dass wir im Fernsehen Bilder der Mächtigen dieser Welt sehen, ohne dass man zugleich Sprechchöre im Hintergrund hört und Demonstranten und Demonstrantinnen sieht. So kann das in Moskau, Ankara und Riad aussehen, aber nicht in Deutschland. mehr

Dass von Beginn an Deeskalation nicht auf der Agenda stand, wird sehr anschaulich  von Markus Reuter auf netzpolitk.org dargestellt:

Schon vor dem eigentlichen Start des G20-Gipfels zeichnen sich massive Einschränkungen von Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit ab. Das Verhalten von Polizei und Behörden verletzt nicht nur Bürgerrechte, sondern läuft einer Deeskalation bei den erwarteten Großprotesten zuwider. Ein Überblick. mehr

Neurodiverses Mitten-Drin-Sein

Wir leben nur einen Straßenzug entfernt des 38 qm großen Gebietes, in dem Hamburger Bürger*innen Grundrechtseinschränkungen zugunsten der G20 Teilnehmer*innen hinnehmen mussten. Unsere Teilnahme war nicht erwünscht, stille Zaungäste sollten wir sein und vor allem nicht zu dicht dran.

Schon Tage vor Beginn des G20 gab es hier kaum eine ruhige Minute. Helikopter, zunächst nur von der Polizei, dann auch die die vom Militär, schwebten über uns.  Leben hinter geschlossenen Fenstern. Durchschlafen war gestern.

Das Straßenbild wechselte von normal zu Polizei-Auto-Korso zu leergefegt.

Kein Treffen mit Freunden, in denen die Frage: „bleiben oder die Stadt verlassen?“  nicht thematisiert wurde.

Je näher der Gipfel rückte, desto präsenter die Staatsmacht. Rund um die Uhr. Beim Einkaufen auf schwerbewaffnete Beamt*innen treffen. Immer wieder diese Helikopter. Das Eintrudeln der Hundertschaften aus anderen Bundesländern in Reisebussen der Polizei, die Ausfahrten der Wasserwerfer und Räumfahrzeuge auf den Straßen der Innenstadt, Sperrgitter -Vorrat am Rande des Fußweges. Unser schwer bewachtes Straßenfest, von dem aus immer wieder mehrere Mannschaftswagen mit Sirene los fuhren um nach 10 Minuten wieder am selben Platz zu parken.
S-Bahn-Fahrten in die Innenstadt, Stacheldraht umzäunt. Bahnhöfe mit herumstehenden, bewaffneten, jungen Polizist*innen.

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Nervosität macht sich breit. Sicherheit strahlt das alles nicht aus. Auch nicht für NTs. Wer aber um ein leichter zu alarmierendes Nervensystem, das Reize nicht mal so eben weg filtern kann, verfügt, ist um etliches angespannter, spürt, hört, sieht und –   nach den Krawallen in unserem Stadtteil-  riecht das  alles viel intensiver. Und keine Ruhe zum

verarbeiten, die Show geht weiter und weiter und weiter.

Obwohl wir gut mit Spannungszuständen und Overload umgehen können: in der Nacht zum Samstag brauchten wir die Unterstützung der ohnehin schon schwer beschäftigten Rettungssanitäter.

Da zieht es mich hin – ich will davon weg

Teenies und mein persönlicher Umgang mit dieser Reizflut kann unterschiedlicher nicht sein.

Obwohl Rheumi mit mir geschimpft hat, lasse ich mir mein Recht auf Protest nicht nehmen. Ich freue mich über die vielen jungen Leute, die sich fantasievoll mit ihrer Zukunft auseinander setzten und ihre Vorstellungen einen gerechten globalen Welt auf die Straße bringen. IMG_0185 (2)Ich staune über die tollen Ideen, die da zusammen gekommen sind, ob getanzt wird, sich mit Lehn beschmiert und durch die Stadt geschlichen, Sitzblockaden errichtet, Joga und was noch alles gemacht wird.

 

Geht ins Netz Leute, da werdet ihr so viel mehr finden als Krawall und Unvernunft.

Ich bin beschämt darüber, dass jungen Menschen das Schlafen im Zelt verwehrt wird und freue mich, wie gut sie damit umgehen. Sehe auch die Hilfsbereitschaft vieler Menschen und Institutionen wie Gemeinden und Theater.

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Soweit es gesundheitlich geht, bin ich dabei. Eine spontane Demo nach einer Lesung in der Musikhalle, selbstverständlich bei der Protestwelle im Vorfeld der Anreise der G20 Teilnehmer und gestern auf der Groß-Demo “ Grenzenlose Solidarität statt G20 „. Immer wieder Polit-Festival – Stimmung, gestört durch die martialisch auftretende Staatsmacht. IMG_2128Warum muss eine Hundertschaft im Gleichschritt quer durch sommerlich gekleidete und sich auf der Straße ausruhende Demonstrant*innen joggen und sich mittendrin positionieren? Dort 10 Minuten drohend  stehen, bevor es „Abmarsch“ heißt, ohne dass eine Gefahrenlage erkennbar war oder eingetreten wäre? So wiederholt geschehen. Das verunsichert und heizt die Stimmung auf.
Das ist das Gegenteil von Deeskalation.
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Etwas in mir schreit nach Ruhe und abschalten, aber es zieht mich dennoch hin zu allem, was aktiv ist. Letzteres  ist meiner politischen Einstellung geschuldet, aber auch meiner neurologischen Formatierung. Ich bin innerlich aufgeputscht.

Bei Teenie zu Hause das Gegenteil.
Hohe Anspannung aufgrund der extremen Lärmverschmutzung durch Helikopter und Sirenen und der sicht-und spürbaren Veränderung unseres Alltags. Busse werden umgeleitet, das Stadtbild ist verfremdet. Die Folge sind Gereiztheit, Appetitlosigkeit und Schlafstörungen; insgesamt ein Gefühl von Orientierungslosigkeit.
Nur zu Hause scheint es relativ sicher.
Vom Fenstersims aus Action Film und friedlichen Protest schauen.

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Blick aus Fenster G20

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Und so baut sich nach und nach der erste Overload auf, dank Entspannungs-und Selbststeuerungstechniken können wir immer wieder den großen Ausbruch verhindern.
Allein zu Hause sein ist kein gutes Gefühl mehr und so arrangieren wir uns mit meinem Wunsch, dabei zu sein und Teenies Schutzbedürfnis.

Als wir dann Freitag vom Lärm mehrerer Militärhelikopter, Leuchtkugeln, Polizeisirenen und aufsteigendem Rauch aus den Nachbarstrassen geweckt werden, steigt die Anspannung mehr und mehr. Und entlädt sich immer wieder in schockartigen Zusammenbrüchen.

Bittere Bilanz

Es sind anstrengende Tage und Nächte.
Wir erleben, dass es völlig egal ist, ob und wie Menschen von einem solchen Polizei-Aufgebot eingeschränkt und belastet werden, mal abgesehen von der politischen Bewertung der ganzen Veranstaltung.
Viele unserer Freund*innen waren immer wieder bei den unterschiedlichsten Protesten dabei und wir bekamen von zu Hause aus mit, was die Medien nicht zeigten.  Eine Freundin schrieb von der (seit Monaten herbeigeredet) berüchtigten Demo „welcome to hell“:
„Ich  bin erschüttert, wie diese fröhliche Veranstaltung kriminalisiert wurde. Die Polizei hat einfach die Straße blockiert. Später ist sie mit Wasserwerfern in die Demomenge, dort wo keine Vermummten waren. Die Demo wurde verarscht. Ich fahre jetzt nach Hause.“
Wie ich sie kenne, im Sommerkleid.

Politisch war dieser G20 eine Null-Nummer, was zu erwarten war.
Er hat nicht zu einer gerechteren Welt beigetragen.
Die Rechnung zahlen wir (wie immer).

Er  kostete uns Nerven und fügte unserer Demokratie Schaden zu.
Man darf sich fragen, ob hier nicht nur eine Exklusive-Polit-Show vor wem auch immer gesichert wurde, sondern ob es sich nicht gleichwohl um eine Real-Life-Übung der Sicherheitskräfte für Auseinandersetzungen ganz anderer Größenordnung gehandelt hat. Bei den Krawallen  Freitag Nacht hat die Polizei so lange mit dem Einschreiten gewartet, bis Anwohner*innen sich gegen Randalierer*innen gewehrt haben. Erst dann wurde geräumt. Auch in unserem Land geht die Schere zwischen Arm und Reich mehr und mehr auseinander.
Nachdenken.
Nicht nur für Teenie politische Bildung konkret.

Dank und Wünsche

Bedanken möchte ich mich bei allen Freund*innen und Bekannten, die uns in diesen heftigen Tagen unterstützt haben. Ihr habt uns mit Infos versorgt, weil wir selbst nicht dabei sein konnten und ward hier, damit ich draußen sein konnte. Ganz besonders geholfen hat Teenie der Tag auf dem Land – weitab von all dem Getöse. Mir hat er zudem die Gelegenheit verschafft, mich mit meiner angereisten Familie dem Protest gegen G20 auf der Straße anzuschließen.

Den jungen Menschen, die noch immer politische Ansprüche haben und deren Ziel eine bessere Welt ist, aber keine andere Möglichkeit sehen, als Randale zu machen, wünsche  ich Entwicklung und Einsicht.
Denjenigen, die sich vorschnell von allem distanzierten, das der Obrigkeit nicht gefällt  und lieber auf deren Demo (Hamburg zeigt Haltung)  mitliefen – und dann noch die Krawalle und nicht die Zukunft unseres Planeten in den Fokus rückten- mehr Mumm und Durchblick.

Menschen, die uns in den Rücken fallen, nur um ihre Aggressionen  loszuwerden, wünsche ich nix.

Wir, die Eltern dieser Generation mit unklarer Zukunft, sollten uns mal fragen, was Teile dieser dazu bringt, rücksichtslos Stadtteile zu zerstören.  Letzte Nacht in Hamburg – die im Bündnis organisierten politischen Aktionen waren alle vorbei – mischte sich der unpolitische Demo-Mob mit abenteuerlustigen Party-Touristen. Eine Saturday-Night der besonderen Art.  Wie viele davon fahren jetzt nach Hause in ihre wohlbehüteten Vororte zurück in ihr bürgerliches, leistungsorientiertes Leben?

Teenie und ich ruhen uns heute aus, jede auf ihre Weise.
Rheumi darf jammern.
Dieses Mal fand das elitäre Treiben bei uns statt. Die Politiker*innen bei euch sind sicherlich nicht weniger rücksichtlos als hier. Im Zweifel werden unsere Interessen untergeordnet.
Passt auf euch auf.
Und mischt euch ein, so lange es noch geht und so wie es für euch geht.
Nicht jede/r hält eine Demo aus. Aber jede/r kann irgend etwas zur Veränderung beitragen.

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Banner des Thalia Theaters

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Abschmink-Maßnahme

Seitdem ich diesen Beitrag geschrieben habe, ist viel Wasser die Elbe hinunter geflossen.

Oft sind wir hin gefallen, wieder aufgestanden und haben unsere Kronen gerichtet.
Und jedes Mal fällt die Aufrichtung schwerer und ist die Krone angekratzter.

Was als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) deklariert ist, entpuppte sich als weiteres Instrument der Selektion. Jungen Menschen mit Behinderungen wurde wieder einmal mit überwiegend defizit-orientierter Haltung begegnet. Nett verpackt als Lernziel, sich mit seiner Behinderung auseinander zu setzen und seine beruflichen Ressourcen realistisch einzuschätzen.

Wege, wie Talente, Interessen und Stärken trotz Behinderung genutzt werden können, wurden nicht gesucht. Eine stark eingegrenzte Auswahl zwischen verschiedenen Berufsfeldern, unzureichende Kontakte zu betrieblichen Kooperationspartnern vor Ort und chronischer Personalmangel beim Maßnahme-Träger sind sicherlich weitere negative Komponenten.

An den Geschäftsführer der Bundesagentur, Herrn Scheele, richtete sich unserer Elternverein zum Jahresanfang mit den Worten:

Wir als Eltern erleben, wie unsere Kinder in diesen Maßnahmen scheitern, keine Anschlussperspektive erhalten oder selbst im Anschluss an eine erfolgreiche BvB keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung finden.
Das bestätigte auch eine Anfang 2017 von Autismus Hamburg e.V. und autSocial e.V. durchgeführte online-Befragung für Hamburg: für 40 % der Befragten, die eine Maßnahme begonnen haben, wurde diese vom Träger vorzeitig beendet. Im Anschluss an eine absolvierte Maßnahme haben 21,2 % eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden, 57,8 % haben nichts und 21,1 % sind in einer weiteren Maßnahme. Wir Eltern erleben im Gegensatz dazu über Jahre, unter welchen Rahmenbedingungen unsere Kinder leistungsfähig sind und ihre Potentiale entfalten können.

Unser Ziel: dafür sensibilisieren, dass AutistInnen nicht in eine 0815-Maßnahme gepackt werden können.

Ein anschließendes Gespräch mit der Regionalleitung und der örtlichen Leitung der Reha-Abteilung war zwar atmosphärisch recht angenehm, brachte aber im Ergebnis nichts als bittere Klarheit: die Bundesagentur sei die Behörde für Menschen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt klar kämen. Die Maßnahmen, die Teilhabe zum Arbeitsleben (LTA) beinhalten, seien hinreichend. Man könne dafür nicht noch mehr Geld ausgeben.

Was für ein beschissener Job

Psycholog*innen, Sozialpädagog*innen  und Ausbilder*innen in den Trägern dieser  Maßnahmen haben also die Aufgabe, die Spreu vom Weizen zu trennen. Sie setzen damit die Arbeit der Lehrer*innen an allgemeinbildenden Schulen fort.

Dabei sind das doch eigentlich helfende Berufe. Wie halten das diese Menschen eigentlich aus? Welche „Wahrheit“ legen sie sich zu Recht? Dass es Menschen mit Behinderung doch viel besser geht, wenn sie unter sich bleiben?  Dass sie ein selbst bestimmtes Leben gar nicht wollen?

Wie schaffen sie es, jungen AutistInnen mit Potenzial, aber möglicherweise noch ohne sogenannte Ausbildungsreife, ohne Gewissenbisse die Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen zu empfehlen? Auch Asperger AutistInnen, die keinen hohen Schulabschluss  haben, sind oft sehr gebildet und in einer WfbM intellektuell total unterfordert. Wie kann man ihnen die Lüge auftischen, dass sei für ihre Entwicklung am Besten und natürlich nicht für immer…?

Machen sie einen großen Bogen um Artikel wie diese, im März in Brand Eins online oder kürzlich in der taz erschienenen?

Teilnehmer*innen und Eltern werden angelogen, dass sich die Balken biegen. Der Prozentsatz der Menschen, die  eine Werkstattbeschäftigung hinter sich lassen, liegt noch nicht einmal bei 1 %.

Was ist das für eine verquere Logik, wenn Werkstätten für behinderte Menschen sich als Teil der Inklusion darstellen?

Natürlich ist mir klar, dass diese Berufsgruppen nichts empfehlen können, was in Deutschland gar nicht existiert.  Wie wäre es damit, sich diese Hilflosigkeit einzugestehen, wie damit, mit Teilnehmer*innen und Eltern ehrlich umzugehen und wie damit, sich für gute Lösungen zu engagieren?

UN-BRK: Deutschland,  6 – setzen

Im März 2015 beschäftigte sich der UN-BRK-Fachausschuss in Genf mit der Staatenprüfung Deutschlands und untersuchte, wie es hier um die Umsetzung der UN-Behindertenrechtkonvention steht. Die Agentur 53° Nord befragte dazu Klaus Lachwitz, den Präsidenten von Inclusion International.

Interessant zu lesen, dass in England die WfbM geschlossen wurden. Dass es möglich ist, Wege zu gehen, die in Deutschland noch nicht einmal gedacht werden dürfen, ohne des Realitätsverlustes bezichtigt zu werden.

Auffallend im Interview, dass es immer um Menschen mit geistiger Behinderung geht, wenn von WfbM gesprochen wir. Auch in Deutschland wurden die WfbM für diesen Personenkreis konzipiert. Mittlerweile sind sie aber ein Auffangbecken für alle, die nicht funktionieren, wie der allgemeine Arbeitsmarkt ( sprich die privaten und öffentlichen Betriebe und den dahinter stehenden Eigentümern) es gerne hätte.

Was kommt noch?

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit Hr. Scheele hat sich nun ein weiteres Projekt ausgedacht. Arbeiten ohne jedes Entgelt für Langzeitarbeitslose in Betrieben der Privatwirtschaft.

„Das neue Konzept sieht vor, Menschen, die seit mindestens vier Jahren arbeitslos sind, zwei bis drei Jahre lang in eine öffentlich geförderte Beschäftigung zu schicken. Langzeitarbeitslose sollen demnach Betrieben, als zusätzliche kostenlose Kraft angeboten werden. „Dort können sie als eine Art Handlanger den Arbeitsprozess in Firmen unterstützen“, sagt von Einem. Ein weiterer Vorschlag sieht vor, sie in der Stadtteilverschönerung einzusetzen.“ Quelle

Das sind die Arbeitsplätze, mit denen ehemals auch Menschen mit Behinderungen ihr geringes Einkommen bestreiten konnten. Ist es da nicht besser, für ein bisschen Taschengeld und Rentenansprüche in einer WfbM auszuharren, als nach langer Arbeitslosigkeit gar nichts mehr für seine Tätigkeit zu bekommen?

Das interessiert merkwürdigerweise kaum jemanden, es sei denn, er ist selbst oder jemand im nähren Beziehungsumfeld ist davon betroffen.

Dabei sind es doch die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätigen Steurerzahler*innen, welche die Privatwirtschaft auf diese Weise subventionieren. Verstehe das, wer will.

Nachreifen

Die persönliche Entscheidung ist meist schwierig. Zu Hause rum hängen ist keine Alternative. Nach monatelanger Demoralisierung ist eine Ausbildung oder ein Job auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oft weniger denkbar als vor Beginn der unpassenden Maßnahme.

Wir sind kein Einzelfall.
Ich schreibe wir, weil ganze Familien unter diesem sich selbst erhaltenden Ausgrenzungs-System leiden.
Unsere Kinder, weil sie keinen angemessen Platz auf dieser Welt finden.
Wir Eltern, die hilflos die Ausgrenzung unserer Kinder mit ansehen müssen.

Wer über finanzielle Mittel (und Zeit) verfügt, kann seinem Kind möglicherweise mit privaten Weiterbildungskursen, zeitintensiven Hobbies nebst Equipment, Urlaubsreisen usw. eine gewisse  Zeit des Nachreifens versüßen, vielleicht sogar den Start in die Selbständigkeit ermöglichen.

Wunsch frei

Hätte ich den, würde ich in ein kleines nettes Touristen-Kaff ziehen, dort ein kleines Lädchen mit allerlei Schnick-Schnack à la DIY aufmachen, Teenie könnte sich kreativ austoben und den Deko-liebenden Damen das eine oder andere Teil aufschwatzen. Ihr Hund, den sie dann endlich haben könnte würde sie immer begleiten. Zum nächsten Reiterhof wäre es nicht weit. Irgendwann hätte Teenie vielleicht Lust auf einen neuen Anlauf. Den müssten wir dann natürlich privat bezahlen, denn das Mahlwerk der staatlicher Reglementierung würden wir fortan meiden.
Ich könnte mein Rheuma pflegen, im Bistro des Lädchens Kaffeespezialitäten und Portweine kredenzen und mich in die gemeinnützige Arbeit stürzen.
Finanziert würde das Ganze von meinem/meiner (noch zu findenden) vermögenden Gatten/Gattin, die/der die Verluste des Ladens steuerlich absetzten könnte.

Wer weiß?

Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.
Hermann Hesse

 

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Mit uns, nicht ohne uns

Weltautismus-Tag.

Haben wir  hier immer.
Mal sichtbar, meist nicht.
Mal spannend, mal Nerv tötend.
Angespannt, locker, konzentriert, uneinsichtig, pingelig, ehrlich und großzügig.
Fröhlich.
Auch mal traurig.
Manchmal tobend durch die Räume.
Hilfsbedürftig und Autonom.
Ideenreich und redegewandt.
Erschöpft. Energiegeladen.
Wortkarg, zurückgezogen und lustlos.
Singend und tanzend.
Nachdenklich, forschend, wissbegierig.
Mutig. Hartnäckig.
Scherzend.
Herausfordernd. Liebevoll.
Liebenswert.

Am Weltautismus-Tag wird  leider viel zu viel ÜBER Autisten*innen gesprochen, von Menschen, die Autisti*nnen selbst nicht zu Wort/Gehör kommen lassen.
Es lohnt sich, genau hinzuschauen, wer Veranstaltungen macht und mit welcher Intention.

Marlies Hübener: Heute schweigen wir

Ellas Blog: Autismus Spektrum- mild, mittel, schwer?

autismuskeepcalmandcarryon: Aus autistischen Kindern werden autistische Erwachsene

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Läuse und Flöhe

Ich habe mich entschieden.
In diesem Blog geht es bisher vor allem darum, wie man mit einer anderen Wahrnehmung einigermaßen durchs Leben kommt, was daran gut ist, Spaß macht aber auch wo  einem Steine in den Weg gelegt werden und man behindert wird.

Seit einiger Zeit lerne ich Barrieren ganz anderer Art kennen: entzündete Gelenke führen zu einer mir bisher unbekannten Mobilitätseinschränkung kombiniert mit Dauerschmerzen.

Das, was Oma hatte?

Möglicherweise ja, aber vermutlich nein. Viele Omas haben Arthrose, eine Verschleißerscheinung der Gelenke, ich hingegen habe rheumatiode Arthrits und die macht auch vor Kindern nicht halt. Aus irgend einem Grund bekämpft sich mein Körper gerade selbst und böse Zungen behaupten, das käme davon, dass ich immer gegen alles Mögliche sei und nun eben auch noch gegen mich selbst.

Gesonderter Blog ?

Einiges spricht dafür. Der Umgang mit dieser Krankheit wirft ganz  besondere Fragestellungen auf. Bloggen hilft mir bei der Reflexion und  der  Austausch mit anderen Bloggern zum Thema Rheuma kann sehr bereichernd sein.

Wir haben hier aber: Rheuma meets ADHS und ASS. Was nichts anderes bedeutet, als dass wir auch hier  vermutlich unsere ganz eigenen Bewältigungsstrategien, die durchaus von denen anderer Menschen/Familien abweichen könnten, entwickeln müssen ( in erster  Linie natürlich ich als Betroffene, aber wir leben hier ja in trauter Zweisamkeit).

Davon ausgehend, dass auch andere ADHSler und Autist*innen nicht immun gegen  Erkrankungen dieser Art sind, und damit  mit Mehrfacheinschränkungen umgehen müssen, eröffne ich lieber in diesem Blog  eine neue Kategorie.

Themen zeichnen sich ab: ob es die  mobile Einschränkung der ansonsten flexiblen Unterstützerin ist  oder die Rolle der Pflegenden der ansonsten Betreuten- hier wird gerade vieles aufgemischt.

Die Blaupause für meine Problembewältigungsmechanismen passt nicht mehr.

Was bleibt

Die Kernthemen dieses  Blogs werden dadurch nicht  berührt: individuellen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Barrieren begegnen. Mit  Vorurteilen umgehen. Gesellschaftliche Teilhabe. Inklusion.

Uns mit unserer ganz eigenen Wahrnehmungsweise alltäglichen Problemen stellen und für uns passende eigene Wege finden.

Denn man tau!

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Maul halten und dankbar sein

Auf den Punkt gebracht, liebe beste Freundin.
Das hätte ich mich gar nicht so zu denken getraut, als Teenie sich im Praktikum den Allerwertesten aufgerissen hat, um alles richtig zu machen:

  • die Arbeit gut und schnell zu erledigen ( obwohl gesagt wurde, lass dir Zeit- und hinterher gedrängelt wurde)
  • nachzufragen wenn etwas unklar ist ( worauf harsch geantwortet wurde)
  • es direkt anzusprechen, wenn es nicht klappt oder behinderungsbedingte Veränderung erforderlich ist  ( worauf man dann doch genervt reagierte)
  • darauf vertraut hat, dass die dann vereinbarte Anpassung auch so erfolgen würde ( und erleben musste, dass alles nur Gelaber war)
  • sich noch einmal aufraffte und das Gespräch suchte  ( und dann  all das an ihr kritisiert wurde, was ihr als Vorgehen im Eingangsgespräch empfohlen wurde).

Und zum Schluss gab es auch noch persönliche Kritik oben drauf bis hin zur Infragestellung von Bewertungen vergangener Praktika.

Wertschätzung Fehlanzeige

In einem Integrationsbetrieb ist klar, dass die Arbeitsplätze dem Leistungsvermögen der Beschäftigten angepasst sein müssen. Steht auch dick und fett auf der Homepage.
Sicher, man kann nicht alles möglich machen.

Ich frage Teenie, wie es den anderen Beschäftigten dort ergangen ist.
Bei sichtbaren Behinderungen sei man wohl irgendwie darauf eingegangen. Der Umgangston sei aber generell rau gewesen. Bei Kritik hätten die anderen geschluckt und weiter gemacht.

Wohl so ähnlich wie Teenie früher in der Schule.

Was ist heute anders?

Ist Teenie heute empfindlicher als früher?
Mir fällt auf, dass  sie wegen sensorischer Überreizung häufiger die Notbremse zieht.

Klare Aussage ihrerseits: als Kind hast du keine Wahl. Du bist ausgeliefert. Es war schon immer genauso wie jetzt. Aber nun bestimme ich, wann es genug für mich ist.

Bei aller Ratlosigkeit hinsichtlich ihrer beruflichen Perspektive:
diese Haltung stimmt mich zuversichtlich.

 

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Luftblase Fachkonzept

Wenn es um die  Eingliederung junger Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt geht, ist die Bundesagentur für Arbeit das erste Nadelör, durch das man sich durchzwängen muss um an eine Berufsausbildung zu kommen.

Die Reha-Berater*innen haben keine Ahnung über die verschiedenen Behinderungen. Dafür sind sie auch nicht da. Das macht der medizinische Dienst. Der zwar seinen Senf dazu geben (oftmals gar nicht so schlecht), aber keine Entscheidungen treffen darf.
Die Reha-Berater*innen passen auf das Geld der BA auf.
Das machen sie gut.
Sie kennen vor allem das Fachkonzept Berufsvorbereitende Maßnahmen.
Damit wird ein Rahmen für die Durchführung einer Maßnahme für die Teilnehmer*innen und die Träger der Maßnahme vorgegeben. Darauf beziehen sich  BA und  Träger gleichermaßen.
Und da es ein Fachkonzept ist, hat man sich ja wohl was dabei gedacht, als man es entwickelt hat.
Waren da Experten*innen am Werk?

Teilhabe auf Probe

Nur selten folgt einem Schulabschluss direkt eine Ausbildung in einem Berufsbildungswerk, nur um mal einen der größten Anbieter zu nennen.
Damit keine Gelder verschleudert werden, muss der junge Mensch erst einmal beweisen, dass er eine von der BA gesponserte Maßnahme durchhalten kann.
Aber das kann die BA nicht so deutlich sagen und so werden Antragsteller*innen schnell zu jemandem gemacht, der/die  sich erst einmal beruflich orientieren muss.
Das ist nicht besonders schwer.
Dazu könnte  man nahezu alle Schulabgänger*innen machen … wer ist sich in diesem Alter schon wirklich sicher, was er/sie über viele Jahre arbeiten möchte. So sagte  mir neulich eine junge Frau, sie schwanke zwischen einem Psychologie Studium und Flugzeugbau. Bei mir war das auch nicht so anders…nur dass ich mir noch mehr Berufe für mich vorstellen konnte.

Wer nicht auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben angewiesen ist, probiert sich einfach aus. Und wechselt, wenn er/sie völlig daneben liegt.
Menschen mit Behinderung mutet man eine 11monatige Berufsorientierung zu, selbst wenn eine berufliche Orientierung vorhanden ist.
Wie anders als Probezeit soll man das nennen?
Im allgemeinen Arbeitsrecht wäre eine so lange Probezeit übrigens unzulässig.

Die BA nennt es deshalb lieber Berufsvorbereitende Maßnahme.

Für alle gleich

Selbstverständlich ist das alles gut durchdacht.
Das Fachkonzept Berufsvorbereitende Maßnahmen bestimmt genau, wie diese 11 Monate zu gestalten sind. Es beginnt mit der Eignungsanalyse, es gibt eine Grund-und Förderstufe,  eine Übergangsqualifizierung und noch einiges mehr.
Vorausgesetzt, dieses Konzept passt auf den jungen Menschen, weil er noch nicht reif genug für eine Ausbildung ist, weil er wirklich noch keinen Plan hat, was er werden will oder weil er nicht einschätzen kann, welchen Beruf er mit seiner Einschränkung machen kann – kurz: wenn er sich noch in vielen Berufsfeldern ausprobieren muss, dann mag das Konzept nicht schlecht sein. Wenn es denn mehr als beschriebenen Papier ist.

Und: wenn die Art der Behinderung dem Konzept nicht zuwider läuft.
Was aber, wenn nicht?

Heute hier, morgen da….

Das Konzept sieht in erster Linie praktische Erprobung in verschieden Berufsfeldern vor.
Ein Praktikum nach dem anderen.
Häufig ist das aber gar nicht gewünscht oder möglich. Wer im Autismus Spektrum ist, hat genau damit Probleme: ständiger Wechsel des Arbeitsortes, ständig neue Kolleg*innen, immer wieder die für Dritte meist unsichtbaren Barrieren neu erklären.

Wir  erleben leider zur Zeit, dass die Berufsvorbereitung eine ziemlich unstrukturierte Sache ist. Das bbw hat keine betrieblichen Partner, in die zuverlässig ins Praktikum vermittelt werden kann. Die Teilnehmer*innen verbringen  einen erheblichen Teil ihrer  dortigen Anwesenheitszeit auf berufenet.de der Arbeitsagentur, suchen dann Betriebe für Praktika, schreiben Bewerbungen. Das war´s.

Praktikumsstellen werden häufig nur mit Hilfe der Eltern gefunden.
Die Teilnehmer*innen sind eine extrem heterogene Gruppe was das Alter, Vorbildung, Behinderung angeht. Das macht es schwer, eine stabile Gruppe zu werden.

Da kommt dann schon die Frage auf, wozu das Ganze gut sein soll.

Probleme mit dem Fachkonzept Berufsvorbereitung der BA für Menschen aus dem autistischen Spektrum

Für Autisten*innen ist z.B. besonders wichtig:

  1. stabile Rahmenbedingungen:
    kontinuierliche Ansprechpartner*innen
    feste Gruppen
    vorhersehbare Ausbildungsabschnitte
    verlässliche Stundenpläne
    planbare Arbeitsabläufe
    konkrete Aufgabenstellung
    konkrete Rückmeldung.Häufig wechselnde Gruppenzusammensetzungen irritieren und binden Energie, die für die Arbeit fehlt.
    Konstante Arbeitsumgebung. Autist*innen brauchen mehr Zeit, um sich an fremde Orte und Personen zu gewöhnen.
  2. Die Behinderung ist zum Teil unsichtbar:
    oft erscheint es, als könnten Autisten*innen sich relativ sicher in sozialen Zusammenhängen bewegen. Niemand sieht, welche Anstrengung es jedoch bedeuten kann, sich in einer Gruppe zu bewegen, wenn man die nonverbale Kommunikation und unausgesprochene soziale Regeln nicht klar erkennen kann. Dies trifft besonders auf autistische Mädchen und Frauen zu, die oft sozial unauffälliger als männliche Autisten sind.
  3. Orientierung an autistischen Stärken:
    Viele Autisten*innen haben Kenntnisse und Fähigkeiten, die sich nicht im regulären Lehrplan des Schulunterrichts wieder spiegeln. Ihre Schulnoten erfassen diese dementsprechend nicht. Es ist sinnvoll, an den Spezialinteressen und Fähigkeiten anzuknüpfen, viele Autist*innen können selbst gut ihre Interessen beschreiben und auch Eltern können meist gute Hinweise geben.
  4. Berücksichtigung der erhöhten Stressanfälligkeit auf sensorische Reize durch:
    räumlich abgetrennten Arbeitsplatz
    Rückzugmöglichkeit Tragen von Geräuschschutz
    Arbeit in kleinen Gruppen
    Kein Zwang zu Gruppenaktivitäten wie Feiern etc.
    Klare Gruppenregeln bei Diskussionen

Was tun?

Natürlich gibt es keine Zahlen in unserer Stadt darüber, ob und wie viele  Teilnehmer*innen aus dem autistischen Spektrum erfolgreich und mit Perspektive einer Ausbildung und Job (auch) auf dem ersten Arbeitsmarkt diese Maßnahmen durchlaufen.
Unser Eindruck: eher weniger.
Die Arbeitsmarktsituation von Autist*innen ist sehr schlecht.
Noch immer arbeitet die Mehrheit  in einer WfBM oder ist ohne jede Erwerbsarbeit. hier

Der finanzielle Kuchen ist schon längst zwischen den Trägern der Teilhabe -Maßnahmen verteilt. Die Träger orientieren sich an der klassischen Aufteilung von körperlich, geistig oder psychisch behindert .
Eigentlich leben alle gut damit: die Träger, die BA – nur die Betroffenen und ihre Familien nicht.
Denn wo bitte passen da die Autist*innen rein?

Eure Unterstützung

Autismus-Initiativen vor Ort haben sich zusammen getan, um zunächst eine Datenlage herzustellen und dann mit entsprechenden Forderungen an die Politik und BA heran zu treten.

Wenn ihr selbst oder eure autistischen Kinder Erfahrungen mit einer bvb gemacht habt, interessiert uns, wie es euch damit ergangen ist. Was war für euch wichtig? Was hättet ihr gebraucht? Wie seid ihr mit Problemen umgegangen und vor allem: hat es beruflich etwas gebracht?

Unser Fragebogen ist lokal begrenzt. Aber jede Anregung ist hilfreich, wir werden auch viele Gespräche führen müssen.

Wir wissen, dass wir ein dickes Brett bohren wollen. Ihr könnt uns dabei helfen.
Danke.

Euer Feedback und Kommentare sind wie immer ohne Registrierung möglich.

 

 

Expedition der Unverbesserlichen

Idee

In einem Anflug  von : was andere Familien können, können wir schon lange, haben wir  Mitte des letzten Jahres beschlossen, zu dritt die Weihnachtstage auswärts und den Jahreswechsel hier vor Ort gemeinsam zu verbringen.

Schon die Auswahl des Feriendomizils war nicht so ganz einfach. Auch bei begrenzten materiellen Mitteln kann man etwas finden, wenn man den Focus nicht  auf Luxus legt.
Kommen dann aber noch individuelle Barrieren hinzu, wird es schwierig.

Aber egal. Wir einigten uns auf die schöne Halbinsel Usedom. Natur und Meer satt und dennoch nicht ganz in der Wildnis.

Rahmen

Je näher unsere kleine Reise kam, desto deutlicher wurde: Unterschiedlicher hätten unsere Wünsche und Bedürfnisse nicht sein können.

Teenie wollte wie immer (zunächst)  gar nicht weg sondern in gewohnter Umgebung bleiben. Der ungeliebte  Weihnachtstrubel bestärkte sie darin. Ihr hätte es gereicht, die immer selben Weihnachtsfilme im heimischen Wohnzimmer zu schauen, sich mit Süßigkeiten und einem Lieblingsessen in Lieblings-Wohlfühlklamotten auf der Coach zu nieder zu lassen und gelegentlich für ein Gespräch unsere Wege zu kreuzen. Am Abend vor der Abreise also klare Ansage: eigentlich will ich hier bleiben.

Mein vorab zugereister Gefährte lebt allein und freute sich vor allem auf gesellige Stunden und Insel-Ausflüge.
Mir hingegen war weder nach Weihnachtsfilmen, Geselligkeit noch Unternehmungen… ich hätte in diesem  Jahr der einsamen Insel nur mit Buch, Laptop und Strand vor dem Haus den Vorzug gegeben.

Da wir allesamt mit einem feinen Gespür für die Stimmungen der Anderen ausgestattet sind, war schnell im Vorfeld klar: das wird ein heikles Unterfangen. Und da wir auch reich mit Impulsivität und Emotionalität gesegnet sind – die Sache mit der Einsicht und dem Verständnis für den Anderen kommt, aber irgendwie in solchen Situationen meist verzögert – gab es am Vorabend der Abreise noch eine Grundsatzdiskussion in der wir es schafften, das uns Trennende in den Vordergrund zu stellen.

Na Prima.

Wagnis

Pünktlich am nächsten Tag ging es dann los.
Jeder dachte sich seinen Teil, jeder hatte ein „das kann ja heiter werden“, ein „mir egal “ und ein „wird schon gut gehen“ im emotionalen Reisegepäck.
Jeder die Hoffnung, dass seine Bedürfnisse doch irgendwie zur Geltung kommen würden.

Unsere Bleibe war ok. Zweckmäßig, aber nicht wirklich geeignet für geräuschempfindliche Menschen. Allergiker allerdings  hätten sich sicherlich über die kühle, staubfreie Einrichtung gefreut.

Der Weihnachtsabend nahte.
Man kann so viel abschwören wie man will…irgendwie ist und bleibt es doch ein besonderer Tag. Und sei es nur deshalb, weil der Rest der Welt nicht abschwört und noch nicht mal ein Restaurant geöffnet hat.

Unser Programm wechselte dem entsprechend zwischen Strandspaziergang, sich aneinander gewöhnen, zu zweit, zu dritt und allein sein, Bratwurst im Brötchen vom einzigen offenen Grillstand am Ort essen, einer wir-schenken-uns-nix-Bescherung, Musik (mit Kopfhörer) hören, Buch- Leseversuchen, durch die Kanäle zappen und bei „Neues aus Büttenwarder“ kleben bleiben ( na und? ).

Den verregneten ersten Weihnachtstag verbrachten wir nicht viel anders. Mal wurde gemault, mal sich verstanden.

In besonderer Erinnerung wird uns unser Ausflug auf das Festland bleiben. Unser Plan war es, an einem der Seen dort ein wenig im Sonnenschein zu spazieren und dann in einem netten Cafè zu stranden…..nun gut, wir hatten uns vorher nicht schlau gemacht und so mussten wir uns mit einer kleinen, lehrreichen – und ausschließlichen Autotour hier hin begnügen:

stetttiner-haff
Willkommen in Mordor?

Das Südufer des Haffes gehört zum Naturpark Am Stettiner Haff, das Nordufer mit der Insel Usedom zum Naturpark Insel Usedom. Westlich befindet sich mit dem Naturschutzgebiet Anklamer Stadtbruch und darin dem Anklamer Torfmoor eine geschützte Fläche, die sich nach langjähriger Nutzung zur Torfgewinnung in der Renaturierung befindet. Wegen des Torfabbaus und wirtschaftlicher Nutzung seit dem 16. Jahrhundert befindet sich heute der Boden unterhalb des Meeresspiegels und wurde 1995 nach einem Deichbruch bei Sturmhochwasser überflutet. Die Wiedervernässung als Moor bzw. der Verzicht auf Wiedereindeichung des ehemaligen Küstenüberflutungsmoores führt zum deutlich sichtbaren Absterben der Bäume des ehemaligen Forstes….

An dieses Moor schließt sich im Bereich der Peene das Naturschutzgroßprojekt Peenetal-Landschaft und das Naturschutzgebiet Unteres Peenetal (Peenetalmoor) direkt an. Zusammen bilden sie das größte zusammenhängende Niedermoorgebiet Mitteleuropas.  Quelle

Unterlassen

Unsere beste Idee war sicherlich, einen geplanten größeren Ausflug in das nahe Polen nicht zu machen. Zu labil empfanden wir unser gemeinschaftliches Gefüge. Ein wenig Sicherheit  ist ja doch nicht so schlecht, und sei es nur in Form von: wenn ich möchte, kann ich mich ausklinken.
Alternativ gab es etwas shopping für Teenie, den Besuch des naheliegenden Heringsdorf für den Gefährten, den Strand für mich und leckeres Essen in der nun wieder unterstützenden Gastronomie für alle.

Aushalten

Die heimatliche Stadt begrüßte uns mit schlechter Luft, vollen Lebensmittelgeschäften und gelegentlichem Feuerwerks-Geknalle, welches Teenies  Alarmsystem von 0 auf 100 brachte. Entspannung oder Partylaune konnte da nur schwer entstehen. Mittlerweile aber wies unser kleines Forschungsteam eine gewisse Stabilität auf, die auch an diesem Tag kleine Zufluchten jenseits des Stresses entstehen ließ.

Uns so kamen wir mit einem Memory-Spiel, in dem man nicht 2 gleiche Bilder, sondern ein illustriertes Sprichwort und das Sprichwort selbst aufdecken muss, ganz ruhig in das neue Jahr. Die Illustrationen sind genau so, wie wenn man die Sprichwörter wörtlich nehmen würde….

sprichwort

Teenie  gelang es  nicht immer, deren  Bedeutung zu erfassen, auch wir waren manchmal unsicher und wir alle  kannten häufig nicht deren Entstehung.
Aber dafür gibt es ein beiliegendes Heftchen mit Erklärungen und niemand wurde beschämt.

Gewinnen

Nun ist das neue Jahr da. Das Alte hat uns hart gefordert. Das Neue wird es tun.
Unser Jahresend-Desaster mit gutem Ausgang hat uns gestärkt: wieder einmal ist es uns trotz diverser Widrigkeiten gelungen, Toleranz für die Besonderheiten des Anderen zu  entwickeln.
In der Nachbetrachtung sind wir alle froh, uns darauf eingelassen zu haben.
Wer weiß, vielleicht hatten wir sogar mehr „Weihnachten“ als so manche Familie, die einträchtig unterm Tannenbaum saß.

Bedanken und wünschen

Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs bedanken.
Viele von euch schreiben selbst und geben mir gute Anregungen.
Andere kommentieren und knüpfen an meine Überlegungen an.
Ihr alle gebt mir die Möglichkeit, mit meinen Gedanken in den Austausch zu gehen.
Und über die Jahre gibt es mit manchen von euch fast schon etwas wie ein „sich kennen“.

Ich wünsche euch ein gutes Jahr 2017 mit Entwicklung und Stabilität dort, wo und wie  ihr es braucht.

Herzlich, eure LW

 

 

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Darf´s auch ein bisschen mehr Leben sein?

Lange habe ich  überlegt, ob ich dies hier mal thematisiere.
Weil es so viel Irritationen bei dem Thema gibt.
Wir idealisiert oder hart kritisiert werden, alles möglich ist zwischen diesen Polen.
Es so sehr darauf ankommt  von wem und mit welchem Interesse wir betrachtet werden.

Es geht um uns , die mit ihrem jungen erwachsenen Kind  aus dem Autismus-Spektrum zusammen leben und versuchen, es bei dem  Schritt in die Arbeitswelt  zu unterstützen.

Unsere erwachsenen Kinder sind es leid, unsere Unterstützung zu brauchen. Verständlich.
Wir Eltern sind nach mehr als 18 Jahren Kampf um Akzeptanz für unsere Kinder erschöpft. Nicht verwunderlich.
Die schwierige Suche nach guten Wegen für beide Seiten.
Frust auf beiden Seiten.
Streit.
Immer wieder Hoffnung, Enttäuschung, Hoffnung.

Was ist passiert?

Solange die Kinder klein sind, ist es relativ leicht zu akzeptieren, dass der Elternjob auch mit sich bringt, sein eigenes Leben zu einem großen Teil darauf auszurichten. Wie alle Eltern verzichten wir einerseits und gewinnen andererseits.
Den Stress mit Behörden, Ärzten, Therapeuten, Lehrern,  bekommen wir gratis dazu.

Wir erleben unsere Kinder nicht nur defizitär, sondern bekommen auch die genialen, charmanten,  talentierten  – also positiven Seiten und Stärken unserer Kinder mit. In dem Maße, wie wir unseren Kindern eine relativ barrierefreie Umgebung schaffen können, sehen wir, wie sie sich darin entfalten. Es gelingt oft, auf diese Weise Hobbies für unsere Kinder zu ermöglichen, solange wir irgendwie als Sicherheitsnetz im Hintergrund  dabei sind. Wir haben eine Idee davon, was gehen kann weil wir unsere Kinder gut kennen und schaffen für sie Möglichkeiten, die von unseren Kindern angenommen werden.

Schule gehört nicht zur barrierefreien Zone. Die Störungsanfälligkeit unserer Kinder dort ist  entsprechend. Der Blickwinkel  auf unsere (und auch die anderen) Kinder sowieso defizitär.
Da hilft  nur Schadensbegrenzung und Wundversorgung.

Oft reicht das nicht und unseren Kindern wird das Recht auf Bildung verwehrt- bis dahin, dass keine (Regel)Schule bereit ist, sich auf viele unsere Kinder einzustellen. Bitter.

Und dann ist die Schule  beendet, die Kinder werden erwachsen. Entwickeln eigene Vorstellungen  vom Leben, formulieren selbst Ansprüche. Das alles ist grundsätzlich toll und fällt in das Kapitel Ablösung von den Eltern ( und umgekehrt). Das ist bekanntlich allgemein kein leichter Prozess aber wenn er geglückt ist, können alle aufatmen.

Perspektiven ?

Jugendliche und junge erwachsene Autist*innen haben jedoch nur eingeschränkte Möglichkeiten, ins selbst bestimmte Erwachsenen-Leben hinein zu  wachsen. Für das Leben in einer Wohngemeinschaft fehlen ihnen vielleicht die Freunde und Bekannte. Möglicherweise ist das auch gar nicht die bevorzugte/passende Wohnform. Alleine wohnen ist oft nicht nur finanziell keine Option, weil es ganz ohne Unterstützung doch nicht geht.
Der Wunsch, endlich aus den Kinderschuhen raus zu wachsen, ist da und kann doch nicht umgesetzt werden.

Der Arbeitsmarkt schreit nicht: hallo willkommen du junger Mensch mit Potenzial!

Vielmehr winken Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit mit eingeschränkten Ausbildungsmöglichkeiten. Und was noch viel schlimmer ist:  es geben sich immer mehr Träger dieser Maßnahmen als Autismus-Experten aus ohne es zu sein.
Scheitern ist vorprogrammiert.
Alternative: Werkstatt für behinderte Menschen?
In Deutschland leider ja.
Niemand ist wirklich daran interessiert, unseren Kindern die erforderliche Unterstützung auch zu geben.
Hauptsache, sie tauchen nicht in der Arbeitslosenstatistik auf.

Und wir Eltern?

Wir sehen uns damit konfrontiert, dass all unsere Bemühungen, unseren Kindern so viel Alltagskompetenz wie möglich zu vermitteln, nicht ausgereicht hat für  einen Job im ersten Arbeitsmarkt.
Es stimmt, wir sind über uns selbst gefrustet, weil wir versagt haben.
Wir sind noch  mehr gefrustet, weil unsere Liebsten es so schwer haben.
Wir noch immer nicht verstehen, wie man denn all die positiven Wesenszüge und Fähigkeiten unserer Kindern nicht entsprechend honoriert.
Weil wir irgendwann nicht mehr da sind und sie dann klar kommen müssen.
Das macht uns Angst und traurig.
Für uns selbst, weil sich unser Leben weiterhin zu sehr an unseren Kindern ausrichtet. Weil es für uns auch als Alte nicht leichter wird, selbst  wenn unsere Energie weniger wird.
Wir selbst keine Belastung werden wollen/dürfen.

Und für unsere Kinder, die nun ins Gröbste rein geschmissen werden, anstatt hinaus zu wachsen. 

Die Situation ist bekannt

Das alles sind keine unbekannten Größen. Auf Autismus-Fachtagen wird  seit Jahren darüber referiert. z.B. dies
Es gibt genügend Literatur dazu.

Was fehlt, ist der gesellschaftliche Wille, das wirklich zu ändern. Beispiel: die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes  letzten Donnerstag.

Noch weniger spricht man über die  Menschen in Pflegeverantwortung.
Dazu gehören ja nicht nur die Eltern, auch Geschwister können damit konfrontiert sein.
Alles nur  Privatsache?

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Ansehen?

Uneins

Teenie und ich sind uneins: soll man sich Spielfilme (und Theaterstücke), in denen Autisten oder ADHSler vorkommen ansehen oder nicht?

Also ich mache das schon allein deshalb, weil ich wissen will, wie  diese in den Medien dargestellt werden.  Aber auch, weil in dem einen oder anderen Film wenigstens mal ein Protagonist im  Bildschirm erscheint, der sich halbwegs  normal benimmt. Wenn man Glück  hat, zeigt der Film sogar annnähernd realistisch die Problemfelder des Alltags und bei noch mehr Glück, Ressourcen /Stärken in nicht verklärter Form auf.

Teenie findet die meisten Filme unrealistsch, diskriminierend und überwiegend langweilig.
Was ich leider oft unterschätzt habe: viele Filme haben für Teenie nicht nur diesen  Ärger-Faktor, sondern auch einen Verwirrungs- und einen Trigger-Faktor. Letzteres trifft besonders auf Theatervorstellungen zu.

Ganz nett

Das sind so die Filme, die in der letzten Zeit im Kino und TV zu sehen waren.
Meist Geschichten um einen Asperger-Autisten_in, der irgendwie kauzig, aber liebenswert ist. Nicht selten hilft er den NTs mit seinem analytischen Handeln aus der Klemme und  weil er nicht so durch die Welt hetzt wie die NTs, wirkt er entschleunigend auf die – ihm im Verlauf des Films wohlgesonnen- Menschen in seinem Umfeld. Selbstverständlich gibt es auch kritische/gefährliche Situationen, aber die gehen immer gut aus.

Dazu gehören z.B.: Birnenkuchen und Lavendel, Ein Sommer in Masuren, Adam.

Am Ende haben Zuschauer, die überhaupt nichts von Autismus wissen, immerhin ein anderes Bild davon bekommen, als Rain Man es vermittelt.

Verwirrungs -und Trigger-Faktor relativ gering, Ärger-Faktor wegen der stereotypen Darstellung der Autist_inn_en groß: keine Mimik, keine Emphatie, Mathe-Vorliebe, Wissen verbal abspulen in Stress-Situationen etc.
Nicht so wie im wahren Leben eben. Langweilig ( Teenie).

Immer wieder gerne

Dies sind Filme, in denen Autismus oder ADHS nicht im Vordergrund stehen, sondern in einem ganz gewöhnlichen cineastischen Handlungsrahmen ( Krimi etc.) eine der Hauptrollen neurodivers agiert. Da freut man sich, wenn die Darstellung nicht zu stereotyp ist, wenn dieser Mensch irgendwie im Team akzeptiert ist und empört sich, wenn Vorurteile, Ausgrenzung und Mobbing gezeigt werden.Häufig ist auch keine Diagnose genannt, was wir gut finden.

Selbstverständlich verfügt  der  „Held_in “ über besondere Talente, aber dass ist ja bei allen spannenden Filmen so.

In diese Kategorie für uns : Die Brücke ( Serie), Criminal Minds, Larssons Triologie Verblendung usw. ( ohne Teenie). Eigentlich schade, dass es meist Detective und Co sind, die  diese Rolle innehaben. Immerhin gibt es eine vergleichsweise positive Sicht  auf Autismus.

Verwirrungs-und Triggerfaktor mittel, Ärgerfaktor gering.

Schulfunk

In diese Kategorie fallen für uns Filme, in denen es in erster Linie um die Themen Autismus oder ADHS geht. Die Geschichten ranken sich meist um die Entwicklung eines Betrofffenen. Manchmal sind sie gut gemacht und sehr informativ und eine gute Alternative zu Dokumentarfilmen, die sich eh´ nur  besonders Interessierte ansehen.

Der Kalte Himmel ( Autismus) oder Keine Zeit für Träume ( ADHS) gehören hier her.

Hier scheiden sich unsere Geister am meisten: Trigger-, Ärger-, Langweil,- Verwirrungsfaktoren allesamt für Teenie hoch. Aus Elternperspektive ist der Trigger-Faktor hoch, geht es doch oft auch gerade um die Stigmatisierung der ganzen Familie, bzw. die Anstrengung der Eltern, für ihr Kind gute Entwicklungs- und  Lernbedingungen zu organisieren.

Hard stuff

Wenn gezeigt wird, wie brutal die Gesellschaft mit Autisten umgeht. Übles Mobbing in Großaufnahme. Verweigerung von Lebensraum durch die Bürokratie mit lebensbedrohlicher Konsequenz. Wenn Depression kein Tabu ist. Verzeiflung sichtbar.

Als Spielfim z.B. in Ben X zu sehen, als Dokumentation in Matthijs Regeln.

Trigger-Faktor hoch.
Kein Unterhaltungsfaktor. Dafür Wut-Faktor auf diese Zustände.

Teenie kann hier nicht mitreden- man muss sich ja nicht alles antun.

Und die Schmuddelkinder?

ADHS ist wohl nicht so gut zu vermarkten. Die meisten Filme handeln von  schwierigen Kindern, die vermeintlich statt mit Erziehung mit Drogen versorgt werden. Daran sieht man, das ADHS  nicht in gleicher Weise als neurodivers wahrgenommen wird wie Autismus. Während Filme über Autisten auch als ganz nette Unterhaltung gedacht sind, haben ADHS-Filme meist etwas dramatisches und verurteilendes.
Angenehme Ausnahme: Rico und Oskar, die beiden Helden aus der gleichnamigen Triologie von Andreas Steinhhöfel. Wobei man da gar nicht weiß, was die eigentlich haben, nur speziell sind sie beide. mehr ( zur Buchvorlage)
Dennoch sind sie häufig zu sehen, die ADHSler in den Medien. Ob als Entertainer_innen oder in den Rollen des Familenchaoten, Halodri oder Klassenclown, unbändigem Halbstarken. In Allerwelts-Filmen, täglichen im TV. Michel von Lönneberga muss man einfach lieben.

ADHS als Thema kommt eher in Dokumentationen oder Talkrunden vor. Da kann halt jeder mitreden, kennt sich vermeintlich aus, hat eine Meinung, selbst ohne die leiseste Ahnung. Einschaltquoten garantiert.

Ärger-Faktor häufig hoch, Trigger selten, Spaß-Faktor bei Filmen wie Findet Nemo mit der sympathischen Dory gibt es  zuweilen aber auch.

Zu echt

Ein  besonderes Erlebnis sind Theateraufführungen. Hier zählt nicht nur die Geschichte.
Gute Schauspieler transportieren echtes Gefühl. Sie schreien, toben, weinen, flüstern. Miteinander, gegeneinander, ins Publikum hinein.  Meint der mich?
Der Ton kann nicht leise gedreht werden. Szenen nicht wiederholt oder vorgespult werden.
Geräuschkulisse Bahnhof – hier ist der Zuschauer mittendrin. Ganz nah dran. Wie schon 100o mal selbst erlebt.

Eine sehr gute Inszenierung von Supergute Tage  hat das junge Schauspielhaus hier geboten. Der Schauspieler hatte sich wirklich gut vorbereitet, sich mit jungen Asperger-Autisten getroffen, Kontakt zur Eltern-Initiative aufgenommen. Und so kamen viele sehr lebensnahe Szenen zusammen. (für Schulklassen gibt es viel Material zum Stück hier )

Das, was Theater ausmacht, dieses unmittelbare, zum Anfassen nahe, erhöht den Trigger-Faktor enorm.

Mir bescherte die Aufführung eine lange nächtliche Diskussion, in der ich lernte,  Filme und Theater über Autisten und ADHSler auch unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen.

Mehr und viel detaillliertes zu diesem Thema nachzulesen in N#mmer , Heft 01/2015.
Listen mit noch mehr Filmen zu den Themen Autismus und ADHS findet man leicht im Netz.

 

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Zwei in Einem

Nun habe ich endlich mal ein Buch in die Finger bekommen, in dem es um Autismus und ADHS geht. Meist werden diese Seins-Formen ja gesondert behandelt. Dabei sind beide oft miteinander vergesellschaftet. Nicht nur im neuropsychologischen Sinne.
ADHSler sind häufig befreundet mit Autisten und umgekehrt, in vielen Familien kommen beide Prägungen vor.

Mit seinem Buch Autismus und ADHS – zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit geht  Prof.Dr.med. Ludger Tebarg van Elst der Frage nach,  wo die Grenzen zwischen Normvariante, Störung und psychischer Erkrankung verlaufen. Autismus steht dabei exemplarisch im Vordergrund, ADHS wird in einem eigenen Abschnitt behandelt und Parallelen zu Tic-Störungen werden immer wieder aufgezeigt.

Aber darf man Autismus oder ADHS überhaupt als Normvariante begreifen?
Das subjektive Empfinden von nicht so schwer betroffenen Menschen im Spektrum und solchen mit guten Rahmenbedingen im sozialen Umfeld plus individuellen Kompensationsmöglichkeiten geht sicherlich eher dahin, die eigene neuropsychologische Sonderformatierung als Normvariante zu sehen.
Ich habe hier schon oft betont, wie fatal ich es finde, nötige Unterstützung nur im Rahmen des Therapie-Business zu bekommen und sich damit als krank definieren zu müssen ( definiert zu werden). Diese unpassenden Hilfen taugen meist wenig, denn sie schießen über das Ziel hinaus. Praktische Unterstützung bei der Alltagsbewältigung (oft bei den kleinen , „einfachen “ Dingen) wäre oft besser und nachhaltiger.

Viele Menschen im Spektrum kämpfen jedoch mit massiven Einschränkungen. Dieses Leid darf nicht klein-geredet werden, nötige medizinische und soziale Unterstützung nicht beschnitten werden.
Das sieht auch der Autor und geht am Ende des Buches ( S. 154) auf diese Befürchtungen ein. Er macht deutlich, dass seine Intention in die andere Richtung geht: differenzierte Betrachtung ohne Leid zu verharmlosen.

Wann werden Symptome und Eigenschaften zur Störung oder Krankheit?

Was ist normal?
Was ist eine Krankheit?
Was ist eine psychische Störung?
Was ist eine Persönlichkeitsstörung?
Was ist Autismus?
Was ist ADHS?
Wie denken wir über unsere Gesundheit?

Das Buch ist viel zu detailliert und komplex, um hier näher auf die inhaltliche Abarbeitung der  obigen Kapitel einzugehen. Ich habe es als Laie gelesen – und mir hat besonders gefallen, dass neben der medizinischen, wissenschaftlichen Betrachtungsweise immer auch eine historische und philosophische Perspektive eingenommen wurde.  Ich fand es spannend, mehr  über den Wandel der klassifikatorischen Prinzipien psychischer Störungen zu erfahren: habe man früher noch nach Ursachen gesucht( Ätiologie), definierten die Klassifikationssysteme ICD und DSM heute nach rein deskriptiven Kriterien unter weitgehender Aufgabe eines kausalen Denkens ( S. 42). Folge davon sei, dass der Störungsbegriff von Patienten, Ärzten und Wissenschaftlern im Sinne einer klassischen Krankheitskategorie missverstanden würden ( S.47).

Auch wenn es im Ergebnis m.E. gut ist, dass mit dem Spektrum-Störungs-Begriff auch Menschen erfasst werden, die nicht so stark betroffen sind, aber dennoch Unterstützung gut gebrauchen können, so wird mir doch schummerig bei dem Gedanken, dass medizinische Kategorien  so stark  von Moralvorstellungen und Kompromissen in gesundheitspolitischen Gremien ( die sich dann auf Klassifikationssysteme einigen) abhängen.

Diversity
Eigentlich geht es doch darum, Menschen mit unterschiedlichster Persönlichkeitsstruktur Raum für individuelle Entfaltung zu geben, nicht jede Abweichung vom vermeintlich Normalen zur Krankheit zu erklären und jeden Menschen in seiner Besonderheit anzunehmen.
Und zu unterstützen, wenn und wie er es braucht.

Ein lesenswertes Buch mit Blick über den
medizinischen/wissenschaftlichen Tellerrand,  das für ein solches Verständnis von Menschen mit Autismus/ADHS wirbt.

 

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