Mitte 20 war ich, als ich ihr begegnete.
Eine Frau, die mich von der ersten Minute an tief beeindruckt hat und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Ich frage mich, was es ist.
Und kann es in Worte nicht fassen.
Meine Lerser/innen wissen, dass ich ein Fan von emoflex bin, also versuche ich es mal auf „emoflexorisch“.
Meine Form für diese kleingewachsene Frau ist groß, in einem warmen orange-rot, die Farben ineinander laufend, leicht transparent. Diese Form ist rund, nicht starr, wie eine große , weiche sich bewegende Blase mit einem riesigen Fassungsvermögen. Sie strahlt Wärme aus, die Oberfläche glatt. Sie ist mir ganz nah und nicht bedrohlich. Eine „Haut“ umgibt die Form, flexibel, dehnbar aber von außen undurchlässig.
Ich erinnere nicht mehr, ob das schon immer so für mich war….früher hab ich nicht so gedacht.
Ist ja auch egal.
Es war ein ganz besonderes Erlebnis für mich, als ich das erste Mal mit ihr auf einer Bühne stand. Ich, eine von vielen im Chor- sie den Solopart singend. Gemeinsam sangen wir die alten Lieder, mit denen sie und viele 1000e gequälte ( überwiegend) Juden sich in den KZ’s am Leben fest gehalten haben.
Gänsehaut, nicht wegen des schönen Klangs.
Gespräche mit uns. Nicht anklagend, schulmeisternd oder besserwisserisch.
Wir vorsichtig neugierig –
was darf man einen Menschen fragen, der Auschwitz überlebt hat?
Aber Esther Bejarano wollte erzählen. Will bis heute, dass es nicht vergessen wird. Nicht das Grauen, nicht die Stärke, die Menschen aufbringen können.
„Ich hatte großes Glück, dass in dem Block, in dem ich übernachtete, eines Abends Frau Tschaikowska, eine polnische Musiklehrerin, nach Frauen suchte, die ein Instrument spielen konnten. Die SS befahl ihr, ein Mädchenorchester aufzustellen. Ich meldete mich, sagte, dass ich Klavier spielen könne. Ein Klavier haben wir hier nicht, sagte Frau Tschaikowska. Wenn du Akkordeon spielen kannst, werde ich dich prüfen. Ich hatte nie zuvor ein Akkordeon in der Hand. Ich musste alles versuchen, um nicht mehr Steine schleppen zu müssen. Ich sagte ihr, dass ich auch Akkordeon spielen könne. Sie befahl mir, den deutschen Schlager „Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami“ zu spielen. Ich kannte diesen Schlager, bat sie um ein paar Minuten Geduld, um mich wieder einzuspielen. Es war wie ein Wunder. Ich spielte den Schlager sogar mit Akkordbegleitung und wurde gemeinsam mit zwei Freundinnen in das Orchester aufgenommen.“
„Die Funktion des Mädchenorchesters in Auschwitz-Birkenau war, am Tor zu stehen und zu spielen, morgens, wenn die Arbeitskolonnen ausmarschierten und abends, wenn sie ins Lager zurückkamen. Wir alle hatten ein schlechtes Gewissen, weil wir sozusagen halfen, dass die Gefangenen im Gleichschritt marsch, marsch, nach unserer Musik marschieren mussten.“
„Aber es kam noch schlimmer. Die SS befahl uns, am Tor zu stehen und zu spielen, wenn neue Transporte ankamen in Zügen, in denen unzählige jüdische Menschen aus allen Teilen Europas saßen, die auf den Gleisen fuhren, die bis zu den Gaskammern verlegt wurden und die alle vergast wurden. Die Menschen winkten uns zu, sie dachten sicher, wo die Musik spielt, kann es ja nicht so schlimm sein. Das war die Taktik der Nazis. Sie wollten, dass all die Menschen ohne Kampf in den Tod gehen. Wir aber wussten, wohin sie fuhren. Mit Tränen in den Augen spielten wir. Wir hätten uns nicht dagegen wehren können, denn hinter uns standen die SS-Schergen mit ihren Gewehren.“ mehr
Gerne besucht sie noch immer Schulklassen, um zu erzählen, um Geschichte fühlbar zu machen. Laden viele Lehrer sie ein? Wieviel schafft sie noch in ihrem Alter?
Ich weiß es nicht.
Die Friedensbewegung der 80ger Jahre brachte viele gemeinsame Auftritte mit ihr. Ich liebe die jiddischen Lieder, diese Melodieführung, die Sprache.
Unvergesslich ein gemeinsamer Auftritt in der Gedenkstätte für die Kinder vom Bullenhuser Damm – der Ort, an dem jüdische Kinder für pseudomedizinische Studien gefoltert und getötet wurden.
Brecht, Eisler und Weill gehörten ebenfalls zu unserem Repertoire. Alte aktuelle Lieder. Heute singt das keiner mehr. Nur ich unter der Dusche.
Esther hat ihre Mitmenschen denn auch nicht in alter Form weiter damit genervt.
Musikerin durch und durch scheut sie sich nicht, gemeinsam mit jüngeren Menschen die Bühne zu betreten. Menschen, die Unrecht auch als solches benennen, gibt es immer, selbst heute.
Dabei gelingt es ihr, die alten Weisen mit neuen Klängen und Rhytmen zu verbinden, ohne sich lächerlich zu machen.
taz: Frau Bejarano, mit der Kölner Hip-Hop-Combo Microphone Mafia haben Sie die CD „Per la Vita“ aufgenommen. Ihre Lieder wurden mit einem Hip-Hop-Beat unterlegt und neue, gerappte Texte kamen zu ihrem Gesang dazu. Mögen Sie Hip-Hop-Musik wirklich?
Esther Bejarano: Ich kann nicht sagen, dass ich sie liebe. Sie ist mir viel zu laut und das Rumgehopse auf der Bühne ist auch nicht mein Fall. Die Rapper habe ich aber schon gemäßigt.
Was interessiert Sie an der Zusammenarbeit?
Zum einen, wie unsere Musik mit den Texten der Rapper zusammenpasst. Die sind wirklich gut. Zum anderen, dass eine Alte wie ich mit ganz jungen Leuten auf der Bühne steht. Es kommen drei Generationen zusammen, aber auch drei verschiedene Religionen. mehr
Mit ihren 88 Jahren singt die Koleratursopranistin längst nicht mehr wie eine Nachtigall, so what?
Esther Bejarano und Microphone Mafia am 28.Juli 2012 beim Antifa-Camp in Weimar:
Am Freitag werde ich Gelegenheit haben, das neue Programm von Esther zu sehen und hören:
La Vita Continua – ein ungewöhnliches musikalisches Projekt wird fortgeführt
Um 20.00 Uhr treten die Familie Bejarano und die Kölner Rapper Microphone Mafia in einem Live-Konzert mit ihrem Programm „La Vita Continua“ im Kulturhof Dulsberg auf. Das ungewöhnliche musikalische Projekt „Per la Vita“ wird mit der neuen CD „La Vita Continua“ fortgesetzt. Der Hamburger Rapper A-Jay wird als Support auftreten.
Orient trifft Okzident, die Jüdin den Moslem, die Atheistin den Christen, Süd trifft Nord, Alt trifft Jung, Frau trifft Mann, Tradition trifft Moderne, Folklore trifft Rap, Hamburg trifft Köln, ausdrucksstarke Stimmen treffen auf geniale Musiker, Spannung trifft auf Harmonie, Herz trifft Verstand, die Familie Bejarano trifft Microphone Mafia – und alle arbeiten gleichberechtigt nebeneinander. mehr
Mein heimischer Teenie möchte leider nicht mit. Wie Mütter so sind, würde auch ich gerne die Schätze meines Lebens an mein Kind weitergeben, zu denen die Begegnung mit Esther zweifellos gehört. Immer für Musik zu begeistern, geht meinem hochsensiblen Ableger ein solches Leben und Konzert jedoch zu sehr unter die Haut.
So wird Teenie ihre eigenen Schätze für’s Leben finden müssen.
Was Esther betrifft: Chapeau vor dieser großartigen Frau!
Ich freue mich über Feedback. Um einen Kommentar zu schreiben, muss man nicht registriert sein.
Ich bin Frau Bejarano begegnet, als sie 2012 hier in unsere Gegend kam (Remagen). Mitgekommen waren einige Schüler verschiedensten Alters (Klasse 8-13), einige mit Eltern. Kein Teilnahmezwang, nur die, die wollten. Mich hat sie schon sehr beeindruckt, aber die Wirkung auf viele Schüler war enorm. Der Wille, die Energie und die Leidenschaft, mit der sie ihre Botschaft in die Runde trug, war fühlbar.
Danke für die Rückmeldung!
Das ist eine gute Idee: freiwillig und auch mit Eltern. Ich denke, gerade bei diesem Thema darf man niemanden überfordern, auch emotional nicht.
Ich bin gespannt auf Freitag: life mit Microphon Mafia habe ich sie noch nicht erlebt. Aber quasi an der Quelle sitzend höre ich sie des öfteren auf Anti-Nazi-Demos: auch da ist sie bis heute dabei.
ich dachte lange, ich könne nichts mehr aus der nazizeit hören, so übersättigt war ich durch den „sozialistischen“ untericht. aber in den letzten jahren stelle ich fest: es gibt berichte, die sind fesselnd, grauenvoll – einfach weil sie vom überleben berichten in einer art, die ans herz geht.
diese kleine frau gehört dazu. weil sie singt, weil in ihrem gesang (der wohl auch von brecht etc. geprägt ist) so viel rüberkommt.
danke!
In diesem Blog-Beitrag und dann auch im eingepflegten Video mit Esther Bejarano wird für eine freundliche Menschlichkeit geworben. Es hat mich sehr bewegt, das dann auch in den Stilmitteln auf so seltene Weise zum Ausdruck gebracht zu finden. Jung und alt, Folklore und Rap, Islam und Judentum, Musik und Literatur, … Alles kommt hier zusammen. Das hat mich sehr bewegt. – Aus meiner Perspektive möchte ich nun noch hinzufügen, dass es weiterhin Menschen unter uns gibt, die aus dem Trauma heraus leben und handeln. Esther Bejarano beschreibt ihr Selbsterleben in den Tagen nach der Befreiung aus dem KZ. Hochsensible Menschen fühlen sich z.T. genauso nach dem Verlassen der Schule, nach einem Lebensabschnitt auf einem Arbeitsplatz, nach dem Wegzug guter Freunde. Sie haben vergleichbare Symptome, sind irritiert und alarmiert, aber es scheint unmöglich mit jemandem darüber zu sprechen, da diese Erfahrungsweisen einem ganz anderen Universum zu entspringen scheinen. Man hat keine Sträflingskleidung und keine KZ-Tattoos zu verbergen. Es gibt keine äußeren Kennzeichen für die überempfindsamen Sensoren die offenen Filter und die schwachen Erholungsfunktionen. Es gibt so auch keine Indikation für eine Traumatherapie. In diesem Fall schließt Dich das gute Elternhaus von der Fürsorge des Gesundheitssystems quasi aus. – Hochsensibilität als begrenzender Faktor in einer Leistungsgesellschaft mit schwindenden Lebensräumen für freundliche Menschlichkeit ist mein Thema. Es schließt inhaltlich und in der Art des Selbsterlebens an die Erfahrungen der Holocaust -Überlebenden an. – Bitte nehmen Sie sich die Zeit, sich das Video mit Esther Bejanaro in Ruhe anzusehen und bedenken Sie, dass es auch unter scheinbar sicheren Bedingungen Menschen so ergeht, ohne äußere Gewalt, ohne Unrechtsstaat.
Ich musste ein Weilchen überlegen, ob man das Überleben im KZ einfach so mit anderen traumatisierenden Erlebnissen vergleichen kann.
Ich denke, da gibt es schon qualitative Unterschiede.
Es hängt aber vermutlich vom Einzelnen ab: jeder Mensch steckt Leiden anders weg. Was für den einen Nichts ist, ist für den anderen schon traumatisierend. Ebenso unterschiedlich die Verarbeitung desselben.
Eines aber ist für mich klar: der Holocaust, sexueller Missbrauch, Kindersoldaten und andere mit System über einen langen Zeitraum verübte Gewalt haben eine besondere Qualität.
Unser Organismus hat davon unabhängige Regulationsmöglichkeiten. Stress setzt z.B. Adrenalin frei…egal was die Ursache dafür ist. So in etwa. Diesbezüglich stimmt dann der Vergleich mit anderen Traumata doch wieder.
Man unterscheidet auch in einfache Traumata und komplexe Traumatisierungen. Die einfachen sind nicht unbedingt schwächer, jedoch zeitlich begrenzt. Sie hängen von den Umständen ab und sie sind vorübergehend.
Die komplexen Traumatisierungen dauern häufig über längere Zeit an und ein Ende der Quälerei steht nicht in Aussicht.
Wenn der Grund der Traumatisierungen in einem Menschen liegt, ist an Flucht nicht zu denken, eine Ende ist nicht in Sicht, das Leid muß „eingebaut“ werden. Hier beginnen die Verformungen des Regulationssystems.
In diese zweite Kategorie fällt sowohl eine Internierung in ein Todeslager als auch eine Internierung in einen hochsensiblen Körper. Klar, bis zu einer gewissen Grenze der Belastbarkeit kann eine Erleichterung der Lebensumstände bei Letzterem über die Traumatisierungsgrenze hinausführen. Aber es wird klar, dass es grundsätzlich zulässig ist, das Selbsterleben eines hochsensiblen Menschen je nach Disposition eher in ein komplexes als in ein einfaches Traumatisierungsprofil einzuordnen. Wenn Hochsensibilität zu chronifizierten Erscheinungsbildern führt, dann sollten Strategien in Betracht genommen werden, die sich auch bei Kriegsveteranen, Opfern rituellen Missbrauchs, … hilfreich sind.
Mir scheint auch, dass es für die zu befürchtenden Folgen von Trauma wichtiger ist, welche Qualität es hatte, als welche Quantität herrschte.
Wenn man dann auch noch beachtet, dass Trauma-Szenarien sich im Nachklang noch in die folgenden Generationen fortsetzen, sollte man mit dem vorauserwähnten zusammengenommen Hochsensibilität in einem neuen Licht sehen und manche Lebenskontexte anders bewerten als das bisher geschehen ist.
Hochsensibilität bietet enorme Chancen. Ganz besonders, wenn man die Risiken beachtet und besonders für Kinder von Anfang an berücksichtigt. – So finde ich, dass eine glückliche Kindheit nicht von schulischem Erfolg ersetzt werden kann und dass hochsensible Kinder in diesem Kontext erwachsene Fürsprecher brauchen, die eine gewisse Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Klischees besitzen.
Vermutlich hast du Recht.
By the way: hier geht es in erster Linie um Widerstand ein Leben lang…..woher kommt diese Kraft, diese Unermüdlichkeit?
Sicherlich auch eine Art von Verarbeitung. Welches “ Programm “ läuft eigentlich da?
Aber nicht alles ist nur aus dem neurologischen/psychologischen Blickwinkel interessant.
Politik ist hier das Zauberwort.
Politik, die wir selber machen.